Deutscher Gewerkschaftsbund

24.03.2020
Corona-Krise, Tarifrunde 2020, Zukunft von DGB und ver.di

„Das Gesundheitswesen leistet Enormes“

Interview mit ver.di-Chef Frank Werneke

Der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke erklärt im einblick-Interview, welche Auswirkungen das Coronavirus auf die ver.di-Branchen und die anstehenden Tarifrunden hat. Außerdem spricht er über Mitgliedergewinnung, neue gewerkschaftliche Formate und Koalitionen.

Krankenschwester hängt Behälter mit Bluttransfusion / Blutspende auf; Symbolbild Gesundheit / Kramkheit / Krankenhaus

Colourbox

60 000 Menschen wurden während der Grippewelle 2017/2018 stationär behandelt. Das zeige, wie "leistungsfähig das Gesundheitswesen ist und wie engagiert die Kolleginnen und Kollegen ihre Arbeit machen", sagt der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke.

Du bist seit gut sechs Monaten ver.di-Vorsitzender. Wie war dein Start in das neue Amt?

Angesichts der aktuellen Krisendynamik fühlt es sich an, als würde der ver.di-Bundeskongress schon Jahre zurückzuliegen. Einige Situationen in der neuen Funktion waren für mich eine Premiere – etwa in Verantwortung für die ver.di-Bundestarifkommission für den öffentlichen Dienst zu sein. Andere kannte ich schon aus meiner langjährigen Tätigkeit im ver.di-Bundesvorstand. Auch an der Runde der Gewerkschaftsvorsitzenden mit der Kanzlerin hatte ich das erste Mal teilgenommen. Mittlerweile ist es – wegen der Corona-Krise – nicht bei einem Treffen geblieben. Das waren alles sehr wichtige Anlässe, bei denen ich freundlich aufgenommen worden bin. Mittlerweile wird aber alles vom Krisenmanagement dominiert.

Welchen Einfluss hat das Coronavirus auf eure Branchen?

Einen ziemlich einschneidenden Einfluss: Zunächst stehen natürlich alle geplanten Termine für Tarifverhandlungen und politische Veranstaltungen unter dem Vorbehalt des Verlaufs der Corona-Epidemie. Darüber hinaus muss man festhalten: Im Gesundheitswesen wird aktuell Enormes geleistet und das bei allen Schwierigkeiten, die es gibt. So kritisieren wir die zu geringe Personalausstattung und die daraus entstehende hohe individuelle Belastung. Aber ich erinnere auch an die letzte große Grippewelle 2017/2018. Damals wurden 60 000 Menschen stationär behandelt. Das zeigt, wie leistungsfähig das Gesundheitswesen ist und wie engagiert die Kolleginnen und Kollegen ihre Arbeit machen.

Es ist natürlich erschreckend, wenn es in Europa nicht gelingt, ausreichend Schutzkleidung und Atemmasken in die Krankenhäuser zu bringen. 70 Prozent dieser Produkte werden in China produziert. An der Stelle ist Handlungsbedarf auch über die aktuelle Krise hinaus geboten. Wir brauchen in Europa ausreichend Produktionskapazitäten für relevante Güter.

Einige Branchen sind unter Druck.

Jeden Tag ergibt sich ein neues Bild. Bereits früh waren der Tourismus, die Reisebranche und dort vor allem der Flugverkehr betroffen. In der Gastronomie und auch im Messewesen steht alles still. Das gilt auch infolge der Schließungen für Warenhäuser und Einzelhändler im Non-Food-Bereich, dagegen reicht die Personaldecke im Lebensmitteleinzelhandel vorne und hinten nicht, um die Grundversorgung sicherzustellen, ohne die Beschäftigten komplett zu überlasten. Wir schauen uns das genau an und bewerten die Lage täglich neu.

Ist politisch ausreichend vorgesorgt, um Branchen und Beschäftigte vor den Folgen zu schützen?

Was im Bereich Kurzarbeit als Paket beschlossen wurde, geht in die richtige Richtung, soweit der Zugang entbürokratisiert und erleichtert wird. Dringend erforderlich ist aber eine materielle Aufstockung des Kurzarbeitergeldes für all jene Beschäftigte, die nicht zusätzlich tariflich abgesichert sind. Die Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge darf nicht nur den Unternehmen zugute kommen, sondern mindestens die Hälfte muss bei den Beschäftigten landen. Die benötigen es dringend, um nicht millionenfach in Hartz IV zu landen. Dort, wo Kurzarbeit gilt, wird es eine herausfordernde Zeit für Gewerkschaften und Betriebsräte. Denn in den Dienstleistungsbranchen gibt es, anders als in der Industrie, damit keine Erfahrungen.

Wir werden auch beobachten, ob einzelne Unternehmen Liquidität benötigen. Diese sollten über KfW-Kredite sichergestellt werden. Die Politik scheint hierfür offen zu sein. Und unabhängig von Corona brauchen wir ein mehrjähriges Investitionsprogramm, um mehr Geld in die öffentliche Infrastruktur und für mehr Personal etwa in der Pflege zu investieren.

 

Frank Wernek, ver.di-Chef

"Mitglieder und ver.di gut durch die Corona-Krise zu bringen." So lauten die aktuellen Ziele von Frank Werneke, 52, der seit September 2019 ver.di-Vorsitzender ist. ver.di / Kay Herschelmann

Welche Erfolge gibt es in den Betrieben?

Bis vor kurzem haben wir bei der Klinikkette Ameos in Sachsen-Anhalt gestreikt, die Kette besitzt dort mehrere Krankenhäuser. Das Unternehmen hat sich massiv gegen Tarifverhandlungen gewehrt, Streikenden ist gekündigt worden. Durch eine breite Solidaritätsbewegung und politischen Druck konnte der Widerstand des Arbeitgebers gebrochen werden. Die Kündigungen sind vom Tisch und wir sind in Tarifverhandlungen.

Was steht in der Tarifrunde für den öffentlichen Dienst bei Bund und Kommunen an?

Im Sozial- und Erziehungsdienst laufen die Tarifverhandlungen im noch ungekündigten Zustand. Wir wollen dort mit den kommunalen Arbeitgebern einen weiteren Schritt gehen, um etwa den Beruf der Erzieherin aufzuwerten. Wegen der aktuellen Entwicklung werden die Verhandlungen allerdings verschoben, neue Termine stehen noch nicht fest. Bei Bund und Kommunen würde es normalerweise ab dem 1. September vor allem um höhere Entgelte gehen. Zudem wollen wir uns für eine Wahlmöglichkeit für die Beschäftigten einsetzen, damit diese zwischen Entgeltsteigerung oder mehr freien Tagen wählen können. Aufgrund der Infektionsschutzmaßnahmen können allerdings die vorbereitenden Gremiensitzungen etwa der Bundestarifkommission ÖD nicht wie üblich durchgeführt werden. Zurzeit arbeiten wir an Lösungen, um unsere Kolleginnen und Kollegen zeitnah zu informieren und Meinungsbildungsprozesse technisch zu sicherzustellen. Über das weitere Vorgehen werden wir entscheiden, wenn die aktuelle Krise überwunden ist.

Für die Bundesverwaltung laufen Tarifverhandlungen, um die Digitalisierung zu gestalten.

Genau. Wir verhandeln mit dem Bundesinnenministerium über einen Tarifvertrag Digitalisierung. Das ist für uns ein Leuchtturmvorhaben für den gesamten Öffentlichen Dienst. Anlass ist das politische Ziel, in den nächsten Jahren sehr viele öffentliche Dienstleistungen zu digitalisieren. Wir wollen unter anderem verhindern, dass durch den Einsatz von neuen Technologien Arbeitsplätze verloren gehen. Es geht um Qualifizierung und um Berufsperspektiven. Manche Tätigkeiten werden sich verändern, andere fallen ganz weg: Papierarchive wird es künftig nicht mehr geben. Hier müssen wir frühzeitig schauen, welche positiven Entwicklungsmöglichkeiten es für die Beschäftigten gibt. Auch die Mitbestimmung steht im Fokus: Das Bundespersonalvertretungsrecht ist auf dem Stand der technologischen Steinzeit aus den frühen 1970er Jahren. Aber auch hier wurde die Verhandlungsuhr wegen der Corona-Bekämpfung erst einmal angehalten.

Im ÖPNV stehen Tarifverhandlungen an. Dort werdet ihr von Fridays for Future unterstützt.

In Bezug auf mögliche Termine und Abläufe gilt das auch für den die Verhandlungen im ÖPNV, wenngleich die Termine dort noch weiter entfernt liegen. Zu FFF gibt es seit vielen Monaten Kontakte – und auch Diskussionen. So gibt es gelegentlich unterschiedliche Ansichten beim Ausstieg aus der Kohleverstromung. Es gibt viele junge ver.di-Mitglieder, die bei Fridays for Future aktiv sind. Zudem haben wir gemeinsame Handlungsfelder: Die Tarifrunde für den Öffentlichen Nahverkehr bietet sich an. Im Verkehrsbereich sind die Klimaziele haushoch gerissen worden, darum gilt es den Nahverkehr zu stärken und auszubauen. ver.di und FFF haben dort gemeinsame Interessen. Wir sind auch mit anderen gesellschaftlichen Gruppen im Gespräch und ich bin optimistisch, dass es eine breite Solidaritätsbewegung geben wird.

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ver.di ist für rund 33.000 Tarifverträge verantwortlich. Wo liegen die aktuellen Herausforderungen?

Die hohe Zahl ergibt sich aus der Tatsache, dass wir es mit einer Reihe von Bereichen zu tun haben, in denen es keine Flächentarifverträge gibt, etwa im Gesundheitswesen und der Pflege. Politisch sehe ich zwei wesentliche Handlungsfelder: Es gibt unverändert die die Tendenz, Betriebe aufzuspalten. Hier geht es den Arbeitgebern vor allem darum, den tarifvertraglichen Schutz abzuschütteln, wie einen nassen Mantel. Da muss der Gesetzgeber ran. Tarifverträge müssen auch nach Betriebsübergängen kollektiv weitergelten. Und wir wollen das Aufträge der öffentlichen Hand und von öffentlichen Unternehmen nur nach an tarifgebunden Unternehmen vergeben werden dürfen.

Wie siehst du die Rolle des DGB?

Ich bin ja nun schon lange dabei. Das Miteinander im DGB ist, das zeigt gerade auch die Krisenbekämpfung, aktuell besser als in der Vergangenheit. Wir schaffen es trotz unterschiedlicher Realitäten und Erfahrungen in den Branchen, die wir repräsentieren, gemeinsam politische Ziele zu benennen und zu handeln. Das gilt nicht nur auf Bundesebene, sondern auch in den Regionen. Mit dem DGB-Zukunftsdialog sind wir auf einem guten Weg. Die Aktivitäten zu den Schwerpunkten Wohnen kamen gut an. Gleiches gilt für das Thema Tarifbindung.

Der DGB ist die Plattform, wo Austausch und Dialog zwischen den Gewerkschaften stattfindet. So können Projekte, Initiativen gemeinsam vorangetrieben und Vorteile erzielt werden. Unter dem Motto „DGB 2030“ hat der letzte DGB-Bundeskongress beschlossen, die Entwicklungsperspektiven des Deutschen Gewerkschaftsbundes zu analysieren. Das werden wir hoffentlich möglichst bald wieder vorantreiben können – wenn wir aus dem Krisenmanagement wieder heraus sind.

ver.di stellt sich neu auf. Was ist das Ziel?

Es geht um die Frage, ob der innere Aufbau aus der ver.di-Gründungszeit vor 19 Jahren noch in die Gegenwart und Zukunft passt. Vieles hat sich verändert. Es gibt heute keine Trennung mehr zwischen Individual- und Massenkommunikation. Die Telekom mit Magenta TV ist dafür ein gutes Beispiel.

Grundgedanke vor 19 Jahren war die Trennung zwischen öffentlichen und privaten Dienstleistungen. Dabei ging es weniger um die Frage, was tun die Menschen eigentlich? Wir schauen deshalb auf die Veränderungen von Berufen, Eigentümerstrukturen und Branchenzuschnitten. Wir werden uns auch die vielen verschiedenen Gremien anschauen, die es bei uns gibt. Der Prozess wird nicht über Nacht umgesetzt. Sondern wir nehmen uns Zeit dafür.

Wie steht es um die Mitgliedergewinnung?

In der Ansprache neuer Mitglieder sind wir nicht schlecht. Letztes Jahr hatten wir 126.000 Eintritte – eine deutliche Steigerung zum Vorjahr. Seit vier Jahren steigen die Zahlen nun. Beachtlich: 32 Prozent der neuen Mitglieder gewinnen wir im Internet. Wir gehen aber auch in Fußgängerzonen und auf Messen. Dort gewinnen wir rund 6000 neue GewerkschafterInnen. Der größte Teil der Beitritte erfolgt weiterhin im Betrieb. Ich hoffe, wir können diesen Trend trotz der immensen Folgen der Corona-Krise beibehalten.

Was sind deine persönlichen Ziele?

Die Mitgliederentwicklung ist für ver.di und damit auch für mich als Vorsitzendem die größte Herausforderung. Jetzt geht es darum, unsere Mitglieder und ver.di gut durch die Corona-Krise zu bringen. Und, wenn das gelungen ist, möchte mit meinen Kolleginnen und Kollegen eine gute Tarifrunde für den öffentlichen Dienst hinlegen.


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