Deutscher Gewerkschaftsbund

24.03.2022

Wird Europa sozialer?

von Susanne K. Schmidt & Susanne Wixforth

Die ökonomischen Ungleichgewichte unter den Mitgliedstaaten bietet für viele Anreize zur Migration. Die Freiheiten des Binnenmarktes stecken den rechtlichen Rahmen hierzu ab. Zwar ist für regulär beschäftigte EU-Bürger*innen die rechtliche Gleichbehandlung bei Arbeits- und Sozialrecht weitgehend umgesetzt, jedoch arbeitet eine zunehmende Anzahl als entsandte oder saisonal Beschäftigte, Grenzgänger*innen oder (Schein-)Selbstständige. Indem der Europäische Gerichtshof (EuGH) über die Dienstleistungsfreiheit die Entsendung stärkte, hat er die Sozialversicherung vom Arbeitsort getrennt. In Anbetracht dessen greifen viele Bemühungen, das soziale Defizit zu kompensieren, zu kurz.

Mehrere Europafahnen wehen auf einer Demonstration im Wind

DGB

Arbeitsmigrant*innen sind in der Regel in ihrem Herkunftsland sozialversichert – wenn überhaupt. Diskussionen zu Fragen der sozialen Absicherung, wie z.B. ein europäischer Mindestlohn oder die Reform der Entsenderichtlinie, zeigen den steigenden Stellenwert des Sozialen Europas. Aber das Augenmerk darf nicht allein marginalen Verbesserungen gelten, während Strukturfehler des Sozialen Europas übersehen werden. Denn: Sinnvolle soziale Absicherung findet am Aufenthaltsort statt.

In der EU ist diese Verbindung oftmals durchbrochen. Unterschiede in den Sozialversicherungsbeiträgen werden nicht nur von Unternehmen genutzt, um Wettbewerbsvorteile zu erzielen. Auch die Mitgliedstaaten unterstützen Geschäftsmodelle, indem sie bspw. die Regeln bezüglich der Entsendung für Firmen großzügig auslegen und der Sozialversicherungsstatus (A1-Bescheinigung) ebenso leicht vergeben wie kontrolliert wird. Es ist deswegen an der Zeit, eben diese Absicherung transnationaler Arbeit stärker in den Blick zu nehmen. Hier ergibt sich eine genuine Zuständigkeit der EU, die über eine zusätzliche Ebene der Sozialversicherung in enger Verbindung mit den nationalen Sozialversicherungssystemen den Schutz sowohl der Beschäftigten als auch der nationalen Systeme verbessern könnte.

Soziale Absicherung in der EU

Mitgliedstaaten entscheiden über den Leistungsumfang und ob die Systeme beitrags- oder steuerfinanziert sind. Die Unterschiede sind groß, 2018 lagen die Ausgaben zwischen 14,7 Prozent (Rumänien) und 31,4 Prozent (Frankreich) des BIP. Aufgrund der hohen Bedeutung des Wohlfahrtsstaats für die Legitimation der nationalen Regierungen ist die EU-Zuständigkeit sehr begrenzt. Die relevanten EU-Verordnungen begnügen sich mit koordinierenden Regeln. Sie legen das zuständige Sozialversicherungssystem bei transnational Beschäftigten fest. Einige Leistungen sind an den Arbeitsort, andere an den Wohnort gebunden. Doch die Koordination reicht nicht aus. Beschäftigte in atypischen Arbeitsverhältnissen sind zunehmend unzureichend abgesichert.

Denn soziale Sicherungssysteme erfüllen ihre Aufgabe nur dann, wenn sie den Betroffenen zu den Konditionen am Wohnort oder Ort der Arbeitssuche Absicherung bieten. Diese notwendige geographische Verbindung zwischen Angebot und Nachfrage sozialer Sicherung kann durch den weitgehend regulativen Ansatz der EU unterlaufen werden. Insbesondere Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit erleichtern die Ausnutzung der unterschiedlichen Sozialabgaben für den Lohnwettbewerb, wodurch wiederum die nationalen Sicherungssysteme unter Druck geraten.

Folgen der Liberalisierung

Aktuell stehen aber auch die Kontrollen zur Einhaltung der Lohnvorschriften unter Druck, weil die Kommission Vertragsverletzungsverfahren gegen 24 Mitgliedstaaten wegen unverhältnismäßiger Beschränkung der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit eingeleitet hat. Details sind noch  nicht bekannt, aber vermutlich bezieht sich die Kommission auf die Kritik des Implementationsberichts 2019. Insofern folgt sie genau der Linie des EuGH. Anstrengungen der Mitgliedstaaten, die Einhaltung der Regeln für Entsendungen sicherzustellen, werden erschwert oder gar zunichte gemacht.

Hier ist an die Verhandlungen mit der Schweiz zu erinnern. Das Beharren auf die Kontrolle von Entsendungen durch Arbeitgeber und Gewerkschaften, die die EU-Kommission als "protektionistisch" und "marktverzerrend" eingestuft hatte, führte zur Ablehnung des Rahmenabkommens durch das Schweizer Parlament. Das paradoxe Ergebnis dieser Haltung ist, dass Drittstaaten mit effizienten Kontrollmechanismen für Arbeitsschutz und sozialer Absicherung nicht Teil des Binnenmarktes werden.

Ursache dafür ist die inkonsequente Verfolgung des Prinzips der gleichen Absicherung für Arbeit am gleichen Ort. Statt stets das Sozialrecht des Arbeitsortes anzuwenden, entschied der EuGH erstmals mit Rush Portuguesa 1990: Beschäftigte können in andere Mitgliedstaaten unter der Dienstleistungsfreiheit entsandt werden. Somit sind Beschäftigungsverhältnis und Sozialversicherung im Herkunftsland verortet, während in einem anderen bis zu zwei Jahre gearbeitet wird. In diesem geraten die Löhne unter Druck, denn die Behörden des Beschäftigungslandes können nicht beurteilen, ob die reguläre Beschäftigung und Wirtschaftsaktivität im Herkunftsland vorliegen oder das Entsendeunternehmen nur eine Briefkastenfirma ist.

Schwachstelle der Sozialversicherungskoordination

Das Soziale Europa ist mit der Zuweisung des für die Sozialversicherung zuständigen Mitgliedstaats rein regulatorisch und nicht verteilungswirksam. Die Verordnungen zur Koordination werden oft mit Blick auf die Rechtsprechung des EuGH reformiert. In seinen Entscheidungen zum Sozialleistungsanspruch leitet den EuGH das Diskriminierungsverbot auf Basis der Nationalität. Damit kann er aber nicht vermeiden, dass verschiedene grenzüberschreitende Situationen unterschiedlich behandelt werden.

Die Behandlung ändert sich je nach Leistungen des Herkunftslandes und deren Exportierbarkeit. Betrachtet man die Möglichkeit, mit exportierbarer Arbeitslosenunterstützung in einem anderen Mitgliedstaat auf Jobsuche zu gehen, sind die Unterschiede besonders deutlich. So erlaubt die Höhe der Zahlungen der dänischen Sozialversicherung in allen anderen Mitgliedstaaten für den Übergang den Unterhalt zu bestreiten, während die Unterstützung aus ärmeren Mitgliedstaaten kaum die Lebenshaltungskosten bei Arbeitssuche in einem anderen Mitgliedstaat decken. Harmonisierte EU-Mindeststandards mit Aufwärtskonvergenz wären eine erste Gegenmaßnahme. Eine verteilungswirksame Aufgabe der EU wird bisher dagegen rein auf Systemebene wie bspw. zur Stabilisierung nationaler Sicherungssysteme oder in Form einer Europäischen Arbeitslosenrückversicherung erwogen. Individuelle Ausgleichszahlungen durch eine europäische Ebene der Sozialversicherung zur Kompensation der unterschiedlichen nationalen Absicherung und Unterstützung der Freizügigkeit sind dagegen noch nicht in der Diskussion.

Die Grenzen der Koordination wurden in der Pandemie besonders offenbar. Grenzschließungen, unterschiedliche Quarantäneregeln und Berechnungsgrundlagen des Kurzarbeitergeldes, von Lohnersatz sowie Krankengeld erhöhten die Komplexität der ohnehin wenig verständlichen nationalen Sozialversicherungsrechte – mit dem Problem, dass Ansprüche sehr viel schwerer eingefordert werden können.

Fazit – Europäische Sozialpolitik auch distributiv im Mehrebenensystem denken

Indem der EuGH über die Dienstleistungsfreiheit die Entsendung stärkte, hat er die Sozialversicherung vom Arbeitsort getrennt. In Anbetracht dessen greifen viele Bemühungen, das soziale Defizit zu kompensieren, zu kurz. Die Reform für entsendete Beschäftigte hat zwar einige Schlupflöcher gestopft, wie z.B. das Ende der Anrechnung der Unterkunft als Lohnbestandteil, dennoch ändert das nichts an den Grundproblemen.

Angesichts der Schwierigkeit, die Freiheiten des Binnenmarkts mit Kontrollen einzuhegen und in länderspezifische Wohlfahrtsstaaten einzubetten, hat das Modell des Sozialen Europas erhebliche Strukturprobleme. Ein wachsender Anteil der Bevölkerung hat eine Beschäftigungsgeschichte in mehr als einem Mitgliedstaat und zirkuläre Migration gewinnt an Bedeutung. Hinzu kommt, dass die Digitalisierung und die Plattformökonomie die Verbindung von Wohnort und Arbeitsort durchtrennt, weshalb sich die bekannten Probleme noch verschärfen.

Deshalb bedarf es der Diskussion einer zusätzlichen europäischen Ebene der Sozialversicherung, die mit den nationalen Systemen verknüpft ist und diese stützt. Grenzüberschreitend Beschäftigte, aber auch jene, die de facto über Plattformen grenzüberschreitend tätig sind, können auf diese Weise einheitlich versichert werden, um künstliche Wettbewerbsvorteile aufgrund unterschiedlicher Sozialbeiträge auszuräumen. Auszahlungen könnten über nationale Systeme gelenkt werden. Ausgleichszahlungen der europäischen an die nationale Ebene würden die Gleichbehandlung der am gleichen Ort arbeitenden EU-Bürger*innen sicherstellen.

Die EU kann die Verbindung zwischen Absicherung und Beschäftigungsort wieder herstellen. Hinsichtlich der Bedeutung des Wohlfahrtsstaats für die Legitimation politischer Systeme muss das Soziale Europa die Tragfähigkeit nationaler Sicherungssysteme im Sinne der Subsidiarität wahren und stützen. Die EU muss sich selbst in der Absicherung transnationaler Arbeit engagieren. Die Konferenz zur Zukunft Europas könnte dafür der geeignete Ort sein, um dies zu tun.


Nach oben