Deutscher Gewerkschaftsbund

10.09.2021

Wie in Zukunft europäische Arbeitsmarktpolitik und Staatsfinanzen an einem Strang ziehen können

von Pola Schneemelcher, Philippa Sigl-Glöckner

Die Corona-Krise hat den finanziellen Druck auf die Mitgliedstaaten erhöht. Gleichzeitig sind die öffentlichen Haushalte mit künftigen Herausforderungen wie stark beanspruchten Sozialversicherungssystemen in einer alternden Gesellschaft und dem Klimawandel konfrontiert. Wir argumentieren, dass diese Herausforderungen nur bewältigbar sind, wenn wir unsere Staatsfinanzen neu ausrichten. Anstatt uns kurzsichtig auf die Minimierung des Haushaltsdefizits zu konzentrieren, sollte im Fokus stehen, was langfristig Wohlstand und solide Staatsfinanzen schafft: Investitionen in eine innovative Wirtschaft und gute Arbeit, die für das Leben zahlt. Damit das möglich wird, bedarf es einer Reform des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP). Denn nur wenn der auf einen vollausgelasteten Arbeitsmarkt ausgerichtet ist, sind langfristig nachhaltige Staatsfinanzen möglich.

Europaflagge mit Geldscheinen im Hintergrund

DGB/Marian Vejcik/123RF.com

Nach Corona ist vor Corona

Spätestens seit der Corona-Krise ist klar, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) dringend reformbedürftig ist. Aber bereits die Staatsschuldenkrise der 2010er Jahre hat bewiesen, dass er eines nicht tut: den Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten helfen, sich von großen Krisen zu erholen. Länder wie Italien sind in den vergangenen Jahren zwar den Vorgaben gefolgt und haben Primärüberschüsse erzielt, sind jedoch weit hinter ihren Wachstumspotenzialen zurückgeblieben. Die Ursache hierfür liegt in den Regeln selbst. Ein „weiter so“ wäre also verheerend: Regierungen könnten ihre Wirtschaften nicht ausreichend stimulieren, müssten erst einmal ihre Schulden abbauen. Auch private Marktteilnehmer würden den Glauben in ein starkes Wirtschaftswachstum verlieren, weniger investieren und damit zu einer Entwicklung unter Potenzial beitragen. Die Frage ist daher nicht, ob es eine Reform braucht, sondern wie diese aussehen kann. Hier spielt die europäische Arbeitsmarktpolitik eine entscheidende Rolle.

Das Problem der europäischen Fiskalregeln

Der präventive Arm des SWPs begrenzt das jährliche, konjunkturell bereinigte Defizit. Die Größe des zulässigen Defizits hängt dabei von dem Zustand der Wirtschaft ab: Im Abschwung ist ein größeres Defizit erlaubt, um die Wirtschaft mittels zusätzlicher staatlicher Nachfrage anzukurbeln. Im Boom soll das Defizit zurückgefahren werden, um eine Überhitzung der Wirtschaft zu verhindern. Diese äußert sich in Inflation: Wenn Unternehmen viel verkaufen können, wollen sie entsprechend Mitarbeiter*innen einstellen. Der Wettbewerb um Personal wächst, Mitarbeiter*innen können höhere Gehälter verlangen, die höhere Kosten bedingen, was wiederum die Preise steigen lässt. Die europäischen Fiskalregeln sollen also genau so viel Defizit zulassen, dass der Staat der Wirtschaft helfen kann, ihr Potenzial auszureizen, ohne dass es zu Überhitzung, also Inflation, kommt.

Entscheidend für die Berechnung des zulässigen Defizits ist damit die Schätzung des Potenzials der Wirtschaft, eine nicht beobachtbare Größe. Die Berechnung des Potenzials baut unter anderem auf einer Schätzung des Arbeitspotenzials auf. Aber anstatt zu schätzen, wo das Arbeitspotenzial tatsächlich liegen könnte, nimmt man einfach an, dass dieses sich so entwickelt wie in der Vergangenheit. Haben Frauen also z.B. in der Vergangenheit weniger gearbeitet als Männer, nimmt man an, dass das auch in der Zukunft nicht anders sein kann. Das ist nicht nachhaltig, denn so lässt man potenzielles Wachstum liegen. Und es verfestigen sich vergangene Trends, die heute und in Zukunft die öffentlichen Haushalte belasten. Außerdem führt die Schätzmethodik dazu, dass die Finanzpolitik den wirtschaftlichen Trend verstärkt, sich also prozyklisch verhält, und damit genau das Gegenteil von dem tut, was sie eigentlich sollte: Waren die letzten Jahre gut, liegt das auf Basis vergangener Werte berechnete Potenzial hoch, der Staat darf die Wirtschaft ankurbeln. Waren die letzten Jahre schlecht, ist das Potenzial niedrig, das zulässige Defizit schrumpft (mehr dazu hier). Darüber hinaus kann das Verfahren im Widerspruch zu politisch gesetzten Zielen stehen. So steht z.B. Vollbeschäftigung als Ziel in Art. 3 (3) TEU; Fiskalregeln, die die niedrigste mögliche Arbeitslosenquote der meisten Mitgliedsstaaten bei über 5% ansetzen, konterkarieren diesem.

So verhindert die Finanzpolitik, dass Mitgliedstaaten das volle Potenzial ihres Arbeitsmarkts ausschöpfen können, um nachhaltiges Wachstum und tragfähige Finanzen zu sichern. Stattdessen gilt eine bestimmte Zahl an Arbeitslosen als unausweichlich. Das hat verheerende Folgen: im Fall von z.B. Spanien liegt die Arbeitslosenquote, bei der angeblich das Potenzial erreicht ist, sogar bei 13%. Fällt die tatsächliche Arbeitslosenquote unter diesen Wert, muss Spanien sparen und wieder mehr Menschen in die Arbeitslosigkeit schicken – angeblich um die Inflation abzuwenden.

Ein vollausgelasteter Arbeitsmarkt als Schlüssel zu tragfähigen Finanzen

Fiskalregeln, die Regierungen davon abhalten zu tun was nötig ist, sind umso schädlicher in Zeiten, in denen die Zentralbank die Wirtschaft kaum mehr durch Zinssenkungen stimulieren kann. Dies gilt derzeit für die EZB. Stattdessen könnte aber die europäische Fiskalpolitik die Zügel in die Hand nehmen: im Gegensatz zur Zentralbank müssen Regierungen nicht darauf hoffen, dass Banken durch niedrige Zinsen mehr Kredite vergeben und so die Wirtschaft ankurbeln. Staaten können direkt die Wirtschaft befeuern, indem sie mehr ausgeben als einnehmen, also mittels Defizits zusätzliche Nachfrage schaffen.

Damit das im Rahmen des SWPs möglich ist, schlagen wir vor, die Schätzung des Potenzials so zu modifizieren, dass dieses tatsächlich die geschätzte mögliche Wirtschaftsleistung abbildet. 

Dazu sollte das Arbeitspotenzial nicht einfach aus der Vergangenheit fortgeschrieben werden. Stattdessen sollten die Inputfaktoren sich darauf stützen, wohin wir wollen, nämlich zu einer vollausgelasteten Wirtschaft. In dieser soll jede*r ausreichend produktiv sein können, um den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Das schließt z.B. eine Situation aus, in der jemand dauerhaft Arbeit sucht und keine findet. Um das zu erreichen, muss der Staat mittels Defizit stimulieren. Das birgt die Chance, die Wirtschaft unabhängig von vergangenen Trends auf höhere Wachstumspfade zu führen, die über gute Löhne und eine niedrige Arbeitslosenquote für hohe Steuereinnahmen und geringe Sozialausgaben sorgen und damit, trotz Defizit, für nachhaltige Staatsfinanzen. Modifiziert man nun Inputfaktoren diesem Ziel entsprechend (z.B. Vollbeschäftigung, also möglichst niedrige Arbeitslosenquote ohne strukturelle Arbeitslosigkeit), anstatt einfach vergangene Trends zu reproduzieren, würde das für größere finanzielle Spielräume sorgen, um ein solches Defizit zu fahren. Unsere Simulationen zeigen, dass eine solche Modifikation der Potenzialschätzung für Deutschland ein mögliches Defizit von insgesamt ca. 70 - 90 Mrd. EUR zwischen 2023 und 2025 gestatten würde.

Eine kleine Schraube für die Technokratie, ein großer Sprung für nachhaltige Finanzpolitik

Unser Vorschlag ist darauf ausgelegt, die Fiskalregeln wieder mit politischen Zielen wie der Vollbeschäftigung in Einklang zu bringen. Möglich gemacht wird dies durch eine Weiterentwicklung der Berechnungsmethodik des wirtschaftlichen Potenzials im Kontext des SWPs. Das wäre eine vergleichsweise kleine technokratische Schraube, um den Widerspruch zwischen Fiskalregeln und langfristig nachhaltigen Staatsfinanzen aufzulösen. Angesichts der bereits angesprochenen Herausforderungen für öffentliche Haushalte wird das aber wichtiger denn je. Wenn wir uns eines heute nicht leisten können, ist es ein unterausgelasteter Arbeitsmarkt mit unnötiger Arbeitslosigkeit und zu niedrigen Löhnen. Es ist höchste Zeit, an den kleinen Schräubchen der europäischen Fiskalregeln zu drehen, um einen großen Schritt in Richtung einer nachhaltigen Finanzpolitik zu gehen.

 


Nach oben