Deutscher Gewerkschaftsbund

13.04.2022

Entscheidend ist die Umsetzung - die Konferenz zur Zukunft Europas als Forum für Wandel in der EU

von Linn Selle, Präsidentin der Europäischen Bewegung Deutschland

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und hemmungslose Gewalt bestimmen derzeit nicht nur die politische Tagesordnung, sie überschatten auch die finale Phase der Konferenz zur Zukunft Europas. Gleichzeitig verdeutlicht der Krieg, dass die EU als demokratisches Friedens- und Einheitsprojekt nichts an ihrer Aktualität eingebüßt hat. Umso wichtiger ist es daher, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten die Reformideen aus der Zukunftskonferenz ernst nehmen und Verbände wie der DGB den öffentlichen Druck weiter hochhalten. 

Mehrere Europafahnen wehen auf einer Demonstration im Wind

DGB

Die Konferenz zur Zukunft Europas kommt zum richtigen Zeitpunkt: Denn die bisherige weitgehende Einigkeit der Staats- und Regierungsspitzen gegenüber Russland darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mitgliedsstaaten in zahlreichen Politikfeldern auf der Stelle treten. Beginnend mit der Eurokrise über die festgefahrene Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems bis hin zu wiederkehrenden Blockaden im Außenministerrat: Europas Bild war in der Vergangenheit von Uneinigkeit, dem Beharren auf nationalen Positionen und eine damit in ihren Strukturen handlungsblockierte EU gezeichnet.

Der neu gefundene Zusammenhalt darf außerdem nicht verdecken, dass die Grundpfeiler der EU – die europäischen Grundwerte, Rechtsstaatlichkeit und die pluralistische Demokratie – in vielen Mitgliedstaaten auf wackeligen Füßen stehen. Gesetze, welche die Unabhängigkeit der Gerichte, der Medien wie auch die Freiheit von Minderheiten einschränken, haben den Wertegraben zwischen den Mitgliedstaaten stetig erweitert. 

Um beides – das Strukturproblem und den Wertegraben – zu überwinden, brauchen wir daher eine ergebnisorientierte und ehrliche Bestandsaufnahme zur Zukunft Europas, die über die Brüsseler und Straßburger Verhandlungsrunden hinausgeht und die Breite der Bevölkerung mitnimmt. 

178 konkrete EU-Reformideen als Ergebnis der Bürgerdialoge

In diesem Sinne ist die Beteiligung von Bürger*innen im Konferenzprozess von zentraler Bedeutung. Sie bringen den frischen Blick von außen mit. 800 im Zufallsverfahren ausgewählte Personen haben in vier thematisch gegliederten, europaweiten Bürgerforen in den vergangenen fünf Monaten eine Vielzahl politischer Forderungen diskutiert. Im März haben sie ihre 178 Empfehlungen dem Plenum der Konferenz überreicht.

Zugleich haben rund 50.000 Teilnehmende mehr als 16.000 Ideen auf der digitalen Plattform veröffentlicht und in den Mitgliedsstaaten zahlreiche nationale Bürgerpodien stattgefunden, deren Ergebnisse in die europäischen Bürgerforen und den Plenardebatten der Zukunftskonferenz einflossen. Sie bilden nun die Basis für die letzten Tagungen der Plenarversammlung, die als Zusammenkunft von Delegierten aus Politik, Gesellschaft und den Bürgerforen bis zum 9. Mai einen Abschlussbericht mit Handlungsforderungen für die Spitzen der drei EU-Institutionen Europaparlament, Kommission und dem Rat der EU erarbeiten. 

Insbesondere die Empfehlungen zum Thema Demokratie verdeutlichen den Wunsch von europäischen Bürger*innen nach mehr Mitsprache und Mitgestaltung in der EU-Politik, beispielsweise durch regelmäßige Bürgerversammlungen, die Vorschläge für EU-Politik formulieren können oder durch die Einführung EU-weiter und vom EU-Parlament ausgelöster Referenden.

Ebenso möchten sie den Parlamentarismus in der EU stärken und fordern ein Initiativrecht für das Europaparlament, das Ende der Einstimmigkeit im Außenministerrat und ein einheitliches europäisches Wahlrecht ab 16 Jahren, das über transnationale Listen auch eine europaweite Wahl von einem Teil der Abgeordneten ermöglicht. Letzteres ist eine wichtige Voraussetzung, damit zukünftig die Spitzenkandidierenden für den Kommissionsvorsitz nicht – wie 2014 und 2019 – nur in ihren lokalen Wahlkreisen zur Abstimmung stehen.  

Fehlendes Ziel und spät erwachte Bundesregierung als Bremsklötze des Dialoges

Der Wermutstropfen bleibt, dass die Zukunftskonferenz über Fachkreisen hinaus nie den Weg in die Breite der deutschen Gesellschaft gefunden hat. Ich sehe hierfür insbesondere zwei Gründe:

Erstens haben sich die EU-Institutionen nie darauf einigen können, was das eigentliche Ziel der Konferenz ist und was mit den Empfehlungen anschließend passieren soll. Ist die Konferenz nur wieder eine Zuhörübung – wie der EU-Bürgerdialog 2018, der als Randnotiz eines EU-Gipfels endete – oder wird der Dialog greifbare Reformen initiieren? 

Zweitens schien die alte Bundesregierung kaum Interesse an dem Zukunftsdialog zu haben. Ein nationaler Bürgerdialog wurde auf die lange Bank geschoben und trotz Anfragen der Europäischen Bewegung Deutschlands (EBD) schien kein strukturierter Dialog mit deutschen Verbänden und Vereinen geplant zu sein. Erst unter der neuen Bundesregierung organisierte das Auswärtige Amt im Januar 2022 ein nationales Bürgerforum. Zudem veröffentlichte die Ampel-Koalition im März 2022 endlich ihre Position, in dem sie sich für "ambitionierte Ergebnisse" ausspricht und "für Vertragsänderungen zur Umsetzung konkreter Fortschritte grundsätzlich offen" zeigte wie auch "perspektivisch für die Einberufung eines verfassungsgebenden Konvents". Dies unterstrich ihre Ambitionen aus dem Koalitionsvertrag, der die Zukunftskonferenz als Vorstufe zu einem europäischen Konvent sieht. 

Als EBD haben wir in den vergangenen Monaten über Informationsveranstaltungen, De-Briefings zu den Plenarversammlungen, Infografiken und eigene Positionen die Debatte in die deutsche Vereins- und Verbandslandschaft hineingetragen. Ich freue mich, dass der DGB sich ebenfalls stark für den Zukunftsdialog engagiert hat, sich durch eigene Stellungnahmen und Aufrufe an die Mitglieder zur Teilnahme an der Online-Debatte eingebracht hat und in der Plenarversammlung der Konferenzprominent durch seinen Vorsitzenden Reiner Hoffmann vertreten ist.  

Nicht alle Empfehlungen bedürfen Vertragsänderungen 

Den öffentlichen Druck sollten wir gerade in den kommenden Monaten hochhalten. Denn nach Überreichung des Abschlussberichts an die EU-Spitzen am 9. Mai durch das Plenum müssen wir gemeinsam darauf achten, dass die Empfehlungen in der Folge auch die notwendigen Reformen einleiten.

Hierzu brauchen wir bis Anfang Mai die Selbstverpflichtung der drei EU-Institutionen, dass sie sich in einem transparenten Verfahren mit allen Optionen auseinandersetzen. Ausreden, dass Vertragsänderungen politisch nicht möglich seien, sollten nicht zählen. Schließlich zeigen erste Untersuchungen der Bürgerempfehlungen, dass gerade einmal 21 der 178 Ideen Vertragsänderungen bedürfen und vieles – wie beispielsweise die Abschaffung der Einstimmigkeit im Ministerrat – über die Passerelle-Klauseln und EU-Legislativpakete bereits jetzt umsetzbar ist.

Daher wünsche ich mir in dieser entscheidenden Phase, dass der DGB weiter den öffentlichen Druck hochhält. Denn nur wenige unserer Mitgliederorganisationen sind in ähnlichem Maße bis auf die lokale Ebene in der Gesellschaft tief verankert und zugleich europaweit vernetzt. Setzen Sie sich daher dafür ein, dass die Empfehlungen der Zukunftskonferenz greifbare Reformen initiieren und die Bundesregierung gemäß ihrer Ankündigung eine treibende Rolle spielt! 

Gleichzeitig sollten wir schon jetzt den Blick auf die Europawahl 2024 richten und darauf achten, dass die Reformideen Eingang in die Wahlprogramme der Parteienfamilien finden. Somit werden die Ergebnisse zum politischen Impuls für die Wahlen, auf die sich die Spitzenkandidierenden für den Kommissionsvorsitz beziehen werden.

Denn eine weitere ergebnislose Zuhörübung wird zwangsläufig zu Enttäuschungen bei den engagierten Bürger*innen führen. Eine Konferenz hingegen, die als gemeinsames deliberatives Produkt sichtbaren Wandel schafft und konkrete EU-Reformen aufzeigt, wird zur thematischen Impuls- und Leitlinie für den Wahlkampf 2024.


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