Deutscher Gewerkschaftsbund

15.06.2022

Belarus: Unabhängige Gewerkschaften unter Druck

von Eric Balthasar und Susanne Wixforth, DGB

In Moskau herrscht harte Autokratie, unter der Führung Vladimir Putins wird imperialistisch geträumt. Ob Sowjetunion oder Russische Föderation, Moskau strebt nach Rückeroberung geographischer Macht: Zugang zum Meer weckt Begehrlichkeit nicht nur nach den ukrainischen Häfen, sondern auch nach den baltischen Staaten. Mit der Invasion russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022 tat Putin den ersten Schritt zur Verwirklichung dieser Strategie. Belarus als neuer Bruderstaat dient neben dem russischen Territorium als Ausgangspunkt, um die Ukraine von zwei Seiten in die Zange zu nehmen.

Mauer mit Stacheldraht in den Farben der belarussischen Flagge

DGB/vadimjoker/123rf.com

Jahrzehntelang schienen die Präsidentschaftswahlen für den Amtsinhaber Lukaschenko nur formale Bestätigungsakte zu sein. Das änderte sich mit den Protesten anlässlich der Präsidentschaftswahlen im August 2020. Bereits vor dem Urnengang herrschte in weiten Teilen der Bevölkerung Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik. Eine internationale Studie zeigte, dass 86,4 Prozent der belarussischen Befragten die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus, das von Lukaschenko als „Psychose“ bezeichnet wurde, als unzureichend warnahmen. 61 Prozent schätzten die ökonomische Lage des Landes als schlecht ein. Ihr Empfinden trügt die belarussische Bevölkerung nicht. Die zweistelligen Wachstumsraten der 2000er Jahre gehören der Vergangenheit an. Das belarussische Bruttoinlandsprodukt 2020 schrumpfte um 0,9 Prozent bei einer Inflation von 9,5 Prozent im Jahr 2021.

Gewerkschaftliche Entwicklung im Zuge der Proteste 2020

Nachdem Lukaschenko nach offiziellen Angaben mit 80,2 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt worden war, nahm die Bevölkerung diesen offensichtlichen Wahlbetrug nicht mehr hin. Zeitweise demonstrierten in Minsk bis zu 200.000 Menschen gegen Lukaschenko. Die Sicherheitskräfte schlugen die Demonstrant*innen nieder, sodass die Massenproteste heute von den belarussischen Straßen verschwunden sind. Trotzdem hat der Widerstand gegen das Regime die Gesellschaft anhaltend verändert. Die Proteste waren Auslöser für gewerkschaftliche Entwicklungen in Belarus. Nach Jahren der Stagnation erschlossen die unabhängigen Gewerkschaften neue Branchen, ihre Mitgliederzahl stieg um 20%. Somit zählt der Belarussische Kongress Demokratischer Gewerkschaften (BKDP), der sich aus den Mitgliedsgewerkschaften Belarussische Unabhängige Gewerkschaft (BNP), Belarussische Freie Gewerkschaft (SPB), Freie Gewerkschaft der Metallarbeiter (SPM) und Belarussische Gewerkschaft der Radioelektronischen Industrie (REP) zusammensetzt und aktives Mitglied des Internationalen Gewerkschaftsbundes ist, etwa 11.000 Mitglieder. Allerdings ist der BKDP in einem Land mit 9,4 Millionen Einwohnern eine kleine Organisation, vor allem im Vergleich zum staatsnahen Gewerkschaftsbund von Belarus (FPB), der rund 4 Millionen Mitglieder hat.

Ukrainekrieg: Innerer Zwiespalt

Seit Kriegsbeginn sind verstärkt russische Polizei und russisches Militär vor Ort. Belarus ist ein weiterer Staat, dessen Souveränität gefährdet ist. Eine noch stärkere wirtschaftliche und politische Anbindung von Belarus an Russland ist eine reale Möglichkeit. Der Angriffskrieg auf die Ukraine wird jedoch von der Bevölkerung nur teilweise als legitime Reaktion auf die Erweiterungsbestrebungen der Europäischen Union gesehen. Auch Lukaschenko verhielt sich bis dato zurückhaltend mit seinen Äußerungen zum Krieg, indem er ihn weder verurteilte noch befürwortete, um die Beteiligung belarussischer Soldat*innen zu vermeiden. Jedoch stellt er das belarussische Grenzterritorium der russischen Armee zur Verfügung. Ein Großteil der Bevölkerung ist gegen den Krieg. Das lässt sich aus Sabotageakten schließen: Nach Angaben von Gewerkschafter*innen gab es massenhafte Dienstverweigerungen bei den Eisenbahner*innen auf den Strecken zwischen Belarus und der Ukraine, die den kriegswichtigen Schienenverkehr teilweise zum Erliegen brachten. Es folgten Dankesbekundungen seitens der Ukraine. Lukaschenkos Regime reagierte mit Festnahmen, mindestens 38 Eisenbahner*innen wurden verhaftet. Darüber hinaus wurde eine dezentral agierende Antikriegsbewegung gegründet. Indes zeugen Angaben von unabhängigen Gewerkschaftern auch von der gegenteiligen Meinung. So sehen 40 Prozent der Betriebsmitglieder bei Minski Sawod Koljosnych Tjagatschei den Krieg als gerechtfertigt an, bei Minski Traktorny Sawod sind es sogar 60 Prozent.

Staatsterror und Widerstand

Das autokratische Regime greift zu immer mehr Repression gegen die sich widersetzende Bevölkerung. Der Internationale Gewerkschaftsbund und die Internationale Arbeitsorganisation prangerten die fehlenden Garantien gewerkschaftlicher Grundrechte und die zunehmenden Verletzungen der Arbeitnehmer*innenrechte in Belarus an. Eine Reihe von ILO-Konventionen wird konsequent ignoriert. Darunter die Vereinigungsfreiheit und das Recht zu Kollektivverhandlungen. Veranstaltungen werden nicht zugelassen, ohnehin gäbe es keine Sicherheitsgarantien für die Teilnehmer*innen. Überfälle auf Gewerkschaftsbüros mehren sich. Ende März 2022 gab es bereits 1.800 politische Gefangene und 400 NGOs sind verboten oder verschwunden. Um möglichst wenig Angriffspunkte zu bieten, halten die unabhängigen Gewerkschaften BNP, SPB, SPM und REP formal die Gesetze ein, reformierten sogar ihre Satzung. Nichtsdestotrotz besteht die Gefahr, dass ihnen die Registrierung entzogen wird, da sie sich weigern, ihre Mitglieder behördlich zu melden. Zurzeit sind nahezu alle unabhängigen Gewerkschaftsführer*innen verhaftet oder unter Arrest gestellt, die internationalen Proteste und Solidaritätsaktionen vor den ausländischen Botschaften von Belarus nehmen zu.

Die Mittel der Gewerkschaftsmitglieder und der Bevölkerung sind stark begrenzt, um Widerstand gegen die staatlichen Repressalien zu leisten. Zwar beweisen viele Aktivist*innen großen Mut, doch darf dieser nicht vorausgesetzt werden. Denn gerade erst Ende April 2022 wurde das „Anti-Terrorgesetz“ geändert. Die Definition von „Terror“ ist extrem weit gefasst und schon die Vorbereitung oder der Versuch einer Tat wird mit der Todesstrafe geahndet. Deshalb hoffen die unabhängigen Gewerkschaften zu ihrer Unterstützung auf Öffentlichkeitsarbeit seitens internationaler Organisationen und Gewerkschaftsbünde. Das umfasst auch den Ausschluss und die weitere Distanzierung von der staatlichen Gewerkschaft bei jeglicher internationalen Zusammenarbeit.

Folgen der zunehmenden Isolation

Der Wirtschaftsabschwung in Belarus erhöht den Druck auf das Regime. Zumal Lukaschenko seit seiner ersten Wahl 1994 wiederholt die Schaffung einer besseren wirtschaftlichen Zukunft verspricht. Die seit Kriegsbeginn verschärften Sanktionen der EU gegenüber Belarus treffen die Wirtschaft schwer. Die Auswirkungen sind in der Bevölkerung angekommen, die mit Hamsterkäufen reagiert. Zwar sind die Geschäfte noch mit Waren bestückt, jedoch explodieren die Preise. Die belarussische Zentralbank rechnet mit einer Inflation von 60 Prozent Ende 2022, selbst eine Verdopplung der Preise wird für möglich gehalten. Neben dem schon lange weggebrochenen Warentransit aus Litauen sind nach dem 24. Februar auch die Alternativen über die Ukraine, zuvor zweitwichtigster Handelspartner, unterbrochen. Viele Lieferketten sind zerstört, es fehlt an Saatgut und unzähligen Ersatzteilen. Ein Kollaps der Wirtschaft ist nicht auszuschließen. Vollkommen offen ist, wie lange Löhne gezahlt werden können. Nach einer Änderung des Arbeitsgesetzes 2020 stehen vereinbarte Löhne nur Beschäftigten mit Mitgliedschaft in der staatlichen Gewerkschaft zu, Nichtmitglieder sind faktisch von Kollektivverträgen ausgeschlossen. Ein weiteres Hindernis für die Organisationskraft unabhängiger Gewerkschaften, insbesondere da sich 90 Prozent der Arbeitsplätze in staatlichen Unternehmen oder der Verwaltung befinden. Unter Berücksichtigung dieser wirtschaftlichen Umstände wäre aus Sicht der unabhängigen belarussischen Gewerkschaften die Durchsetzung der Einhaltung der Menschenrechte statt Wirtschaftssanktionen zielführender.

Wirtschaftlicher Niedergang, Staatsterror und Krieg im Nachbarland: Die unabhängigen belarussischen Gewerkschaften und organisierte Zivilgesellschaft sind mit großen Herausforderungen konfrontiert. Für ihre Bewältigung reicht nicht der Mut einzelner Widerstandskämpfer*innen. Vielmehr bedarf es einer gemeinsamen Strategie europäischer und internationaler Gewerkschaftsbünde, um die Unabhängigkeit von Belarus zu bewahren und eine Demokratisierung des Landes zu erreichen.


Nach oben