Deutscher Gewerkschaftsbund

05.07.2022
Kongress des Slowakischen Gewerkschaftsbundes KOZ SR

Aufbruch Richtung Europa

von Eric Balthasar und Susanne Wixforth, DGB

20.000 Lehrer*innen demonstrierten am 15. Juni auf den slowakischen Straßen. Der größte Streik der letzten Jahre. Ein fulminanter Paukenschlag zum zweitätigen Kongress des Slowakischen Gewerkschaftsbundes KOZ SR, der einen Tag darauf begann. Die Delegierten drückten mit der verabschiedeten Resolution ihr Engagement für einen besseren Lebensstandard der slowakischen Bürger*innen aus und zeigten mit der Wahl der neuen Vorsitzenden Monika Uhlerová mehr Offenheit für Europäische Fragen.

Mehrere Europafahnen wehen auf einer Demonstration im Wind

DGB

Wie im Rest der Welt ist die wirtschaftliche Lage der Slowakei in den letzten zwei Jahren von den Auswirkungen der Coronapandemie geprägt. Im Jahr 2020 schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt um 4,4 Prozent, wodurch erstmals seit sieben Jahren die Arbeitslosigkeit anstieg, um 0,9 Prozentpunkte auf 6,7 Prozent. Trotz einer wirtschaftlichen Erholung im Jahr 2021 stagnierte die Arbeitslosenquote. Zudem hat die Slowakei mit der höchsten Inflation in der Europäischen Union nach den baltischen Staaten zu kämpfen. Im Juni 2022 betrug sie 12,5 Prozent.

Lage der Gewerkschaften

Die Lage der slowakischen Gewerkschaften ist alles andere als einfach. Aktuell sind etwa 13 Prozent der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert. Der Organisationsgrad leidet zusätzlich unter einer enormen Zersplitterung, KOZ SR vereint 24 Einzelgewerkschaften. Überdies gründen sich vielerorts Betriebsgewerkschaften, wie zum Beispiel bei Škoda, wo sich die Gewerkschaft Moderne odborov Volkswagen von der Metallgewerkschaft OZ KOVO abgespalten hat. Dadurch erlitt KOZ einen schmerzlichen Mitgliederverlust, und zwar bei den zahlungskräftigsten Mitgliedern. Moderne odborov Volkswagen fordert gleichen Lohn für gleiche Arbeit im gleichen Unternehmen. Da die Produktivität in der Slowakei 80 Prozent der deutschen Produktivität erreicht, verlangen die slowakischen Beschäftigten von Škoda eine entsprechende Gehaltserhöhung. So führt die Lohnpolitik global agierender Konzerne zunehmend zur Spaltung der Beschäftigten in der Slowakei, aber auch zu einem Wettbewerb zwischen den Belegschaften verschiedener Mitgliedsländer.

Arbeitsmarktpolitik: Erfolge und Rückschläge

Der Mindestlohn in der Slowakei ist von 435 € 2016 auf 646 € 2022 gestiegen. Nach wie vor liegt er acht Prozent unter dem nationalen Durchschnitts- und dem Medianlohn. Mit 3,98 € Stundenlohn gemessen in Kaufkraftparitäten liegt die Slowakei im europäischen Vergleich an drittletzter Stelle. Eine der wesentlichen Forderungen des KOZ-Kongresses an die slowakische Regierung ist daher die Umsetzung der Schwellenwerte, wie sie im Entwurf für eine Europäische Mindestlohnrichtlinie der EU-Kommission vorgesehen sind – wonach der Mindestlohn 50 Prozent des nationalen Durchschnittslohnes bzw 60 Prozent des nationalen Medianlohnes betragen soll. Dies ist umso wichtiger, als die Regierung 2019 nach Scheitern des tripartiten Sozialpartnerdialogs den Mindestlohn auf € 580 einseitig deutlich unterhalb der beiden Schwellenwerte und der gewerkschaftlichen Forderungen festlegte. Die 2019 vorgesehenen Zuschläge für Feiertagesarbeit wurden während der Covid-Pandemie gleich wieder abgeschafft.

Neben der Anhebung des Mindestlohnes strebt KOZ SR eine Tarifabdeckung von 25 Prozent auf 70 Prozent an. Der Weg zur Erfüllung wird steinig: Denn trotz der Wiederaufnahme des Trilogs zwischen Staat, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden nach einjähriger Unterbrechung im Februar 2021 wurde ein neues Arbeitsgesetz verabschiedet, das den Arbeitsmarkt weiter flexibilisiert und die Gewerkschaften schwächt. Arbeitgeber sind nur dann verpflichtet, die Aktivität von Gewerkschaften im Betrieb zuzulassen, wenn sich unter den Beschäftigten aktive Gewerkschaftsmitglieder befinden. Außerdem läuft die verbindliche Wirkung repräsentativer Branchentarifverträge gegenüber Arbeitgebern, die keinem Arbeitgeberverband angehören, nach ihrem Ablauf aus.

Kampfabstimmung

Der seit 2017 amtierende Vorsitzende Marián Magdoško wurde auf dem Kongress in der Abstimmung über den Vorsitz von seiner Stellvertreterin Monika Uhlerová herausgefordert. Unter seiner Ägide spielten die Europäische Union und die europäische Gewerkschaftspolitik praktisch keine Rolle. Die Spannung war groß, es war von einem Kopf-an-Kopf-Rennen die Rede. Hinter Marián Magdoško standen die großen Industriegewerkschaften, hinter Monika Uhlerová versammelten sich die progressiven und jungen Gewerkschafter*innen. Mit der Wahl von Monika Uhlerová zur neuen Vorsitzenden erhofft man sich eine Neuausrichtung und Offenheit für Europäische Fragen. Auch die slowakische Vertretung der Friedrich-Ebert-Stiftung erwartet frischen Wind, da das mangelnde Interesse des vorherigen Vorsitzenden die Umsetzbarkeit gemeinsamer Projekte beeinträchtigte. Deutliche Unzufriedenheit mit dem Ergebnis war von der Industriegewerkschaft OZ KOVO zu erkennen. František Gajdoš von OZ KOVO, wurde deshalb als Vizepräsident gewählt.

Resolution für eine faire Zukunft

Die verabschiedete Kongress-Resolution fordert den Aufbau eines Wohlfahrtsstaates, der soziale Rechte und Sicherheit stärkt sowie die soziale Inklusion fördert. Hochwertige öffentliche Dienstleistungen sollen nicht nur in den Ballungszentren für alle Bürger*innen zugänglich sein. Es soll ein solidarisches Sozialversicherungssystem entwickelt werden, das bei Arbeitslosigkeit und Krankheit sowie vor Altersarmut schützt.

Auch die Stärkung der industriellen Beziehungen durch Herstellung eines konstruktiven sozialen Dialogs ist ein wesentlicher Punkt. Dazu gehört die Achtung der Rechte und Freiheiten von Gewerkschaften sowie die Anerkennung eines Konsultationsrechts im Gesetzgebungsverfahren. Dies sind Grundvoraussetzung für faire Tarifverhandlungen und eine verbesserte Lage der Beschäftigten sowie Schaffung guter Arbeit, die ein menschenwürdiges Leben garantiert. Dies wurde dem anwesenden Premierminister Eduard Heger mitgegeben, der im Hinblick auf die Großdemonstration vom Vortag um gewerkschaftliches Vertrauen in die Regierung warb.

Der Graben zwischen Gewerkschaften und Regierung ist tief, wie der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft und Organisator der Demonstration am Vortag zusammenfasst: Der Staat muss den Bürger*innen dienen, nicht umgekehrt. Die neue Vorsitzende Monika Uhlerová übernimmt das Steuer in schwierigen Zeiten. Eine nachhaltigere gewerkschaftliche Ausrichtung zur Europäischen Union und europäischen Gewerkschaftspolitik kann die Stellung des KOZ SR als legitime Vertretung der Arbeitnehmer*innen nur stärken.


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