Deutscher Gewerkschaftsbund

19.01.2022

Gewerkschaftliche Transformationsansätze für den industriellen Wandel

Deutschland - Frankreich im Vergleich

von Susanne Wixforth, DGB-BVV

Eine Bestandsaufnahme im Rahmen des deutsch-französischen Gewerkschaftsforum im Dezember 2021 zeigt die großen Herausforderungen, mit denen sich die drei größten Gewerkschaftsdachverbände Frankreichs konfrontiert sehen: Das Macronsche Großprojekt, der Umbau des Arbeitsmarktes, wird durch die Corona-Pandemie zu einem Gemeinschaftsprojekt, in das die Sozialpartner einbezogen werden. Die Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels sind vor allem eine Frage des gerechten Übergangs, sollen sie Akzeptanz in der Bevölkerung finden. Die damit verbundene Transformation gewerkschaftlich gut organisierter Wirtschaftszweige ist die größte Herausforderung an die Gewerkschaften. An Gestaltungswillen fehlt es bei diesen nicht: Deutsche und französischen Gewerkschaften fordern eine Beteiligung auf allen Ebenen ein.

Gewerkschafter mit dem Rücken gewandt und Westen mit der Aufschrift CGT

DGB/neydt/123rf.com

Die Krise der öffentlichen Daseinsvorsorge - von öffentlichem Verkehr über Infrastruktur zum Gesundheitswesen - ist kein neues Thema. Es beschäftigt die Gewerkschaften zumindest seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2009. Die Corona-Pandemie verdeutlichte diesen Umstand und führt vor Augen, wie wenig resilient das sogenannte Europäische Wohlfahrtssystem inzwischen ist. Überlastete Krankenhäuser, fehlende Beatmungsgeräte, Lieferengpässe bei Schutzmasken und zu wenige Test-Kits – in der Corona-Krise bricht ein System zusammen, das in vielen europäischen Ländern schon im Normalbetrieb vor dem Kollaps stand. Bereits Monate vor der Pandemie kam es in Frankreich zu landesweiten Streiks der Gesundheitsarbeiter*innen und Schließungen von Notaufnahmen, weil die Arbeitsbedingungen und Löhne seit Jahren unter massiver Unterfinanzierung leiden. 97 Prozent der französischen Krankenhäuser gaben Ende 2019 an, Schwierigkeiten bei der Besetzung freier Stellen zu haben. Die Privatisierung der Krankenhäuser in Deutschland hat dazu geführt, dass nur noch rund 20 Prozent der Kliniken eine gesicherte Investitionsfinanzierung durch öffentliche Mittel vorweisen. Der Investitionsstau wird in Deutschland mit 50 Milliarden Euro beziffert. Die Lage in anderen Mitgliedstaaten ist noch dramatischer: Europa in einem versorgungstechnischen Notstand. Damit einher ging die Schwächung der sozialpartnerschaftlichen Beziehungen.

Umbau der Sozialpartnerschaft

Kurz nach seinem Amtsantritt gewährte das französische Parlament Präsident Macron ein umfassendes Mandat für den Umbau des Arbeitsmarktes. Eine Vielzahl von Reformen können deshalb per einfachem Dekret erlassen werden. Hintergrund des politischen Vorhabens: Die französische Arbeitslosenquote betrug damals 12,5 Prozent, begleitet von noch höherer Jugendarbeitslosigkeit - im Vergleich dazu belief sie sich in Deutschland auf 5,6 Prozent. Außerdem hatte sich eine Art Zweiklassengesellschaft entwickelt: Unbefristet angestellte Beschäftigte genossen gute Absicherung im Alter und bei Arbeitslosigkeit und waren schwer kündbar. Anders die Situation bei Berufseinsteiger*innen: neun von zehn der neuen Arbeitsverträge sind befristet.

Der Plan Macrons umfasste neben der Liberalisierung der Arbeitsverhältnisse eine Reform der Sozialkassen. Beiträge in Arbeitslosen- und Krankenversicherung sollen abgeschafft und stattdessen über Steuern finanziert werden, um Arbeitsplätze für Unternehmen billiger zu machen. Denn die Beschäftigten zahlten 20 bis 25 Prozent ihres Bruttolohns, der Arbeitgeber*innenanteil betrug 40 bis 45 Prozent. Gleichzeitig soll die Verwaltung auf den Staat übertragen werden. Eine Entmachtung der Sozialpartner*innen, da die Verwaltung der Arbeitslosenversicherung gemeinsam durch Gewerkschaften und Arbeitgeber*innen erfolgte.

Der bedeutendste Einschnitt ist aber in der Verlagerung der Regelung von Arbeitszeit, Überstunden, Arbeitsschutz und Lohnvereinbarungen auf die Betriebsebene zu sehen. Die Idee: Die Belegschaft soll durchgehend von Betriebsräten statt wie bisher durch die verschiedenen Gewerkschaften vertreten werden.  Ein bedeutender Machtverlust der französischen Gewerkschaften, die bisher landesweit einheitliche Regeln für Branchen oder allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge durchsetzen konnten.

Ziel dieser Maßnahmen: Übertragung der Stärke des Standorts Deutschlands auf Frankreich. In Deutschland hatten die Gewerkschaften in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts zahlreiche Öffnungsklauseln bei den Flächentarifverträgen für ganze Branchen zugestimmt. Grund dafür war der enorme Druck der hohen Arbeitslosigkeit, der Niedergang ganzer Industrien und die Lohnkonkurrenz aus Osteuropa. Ähnliche Herausforderungen wie bei der Osterweiterung und der deutschen Vereinigung kommen jetzt auf beide Länder wieder zu: Die Umgestaltung zu eine CO2 neutralen Wirtschaft bedeutet die Schließung bzw. totale Umstrukturierung ganzer Industriezweige. Eine große soziale Herausforderung, die einerseits die Gestaltungskraft des Staates erfordert, andererseits auch die Gewerkschaften vor völlig neue Aufgaben stellt.

Kein Europäischer "Rust Belt"

Denn die Kehrseiten der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes traten in Deutschland deutlich zu Tage: die Reallöhne sanken, die Einkommensungleichheit stieg, ebenso der Niedriglohnsektor und prekäre Beschäftigung. Der Ausstieg auf fossiler Energieerzeugung bedeutet für ganz Europa einen drastischen Anstieg der Energiekosten. Die Umrüstung auf Wasserstofftechnologie bei Großverbraucher*innen von Strom, also Stahl-, Papier- und Zementerzeugung, erfordert riesige Investitionsanstrengungen. Schätzungen berechnen, dass es Aufwendungen zwischen 500 und 1000 Milliarden jährlich bedarf, um die EU-Klimaziele zu erreichen. Die damit verbundene Finanzierungsfrage ist eine klare Verteilungsfrage. Gewerkschaften setzen auf unterschiedliche Strategien: Während in Frankreich ein klares Bekenntnis zur Fortentwicklung der Atomtechnologie besteht, um den Strompreis stabil zu halten, sehen die deutschen Gewerkschaften Carbon Contracts for Difference ("Klimazertifikate"), also eine staatliche Preisgarantie für Industriestrom, als Lösung. Energieeffizienzmaßnahmen werden als zweites Standbein gesehen, um Haushalte und Beschäftigte vor Energiearmut zu bewahren. In diesem Zusammenhang sehen französische und deutsche Gewerkschaften die Schaffung guter Arbeitsplätze in neu entstehenden Branchen als Priorität.

Durch die Corona-Pandemie bekamen die französischen Gewerkschaften wieder einen Fuß in die bis dahin praktisch geschlossene Verhandlungstüre mit der französischen Regierung. Kurzarbeitsmaßnahmen, Arbeitszeitkonten und Gesundheitsschutzmaßnahmen am Arbeitsplatz ließen die sozialpartnerschaftlichen Beziehungen aufleben. Dieser "Verhandlungsspalt" schließt sich jedoch wieder. Die französischen Gewerkschaften sind allerdings kämpferisch: Ihren Fuß wollen sie nicht mehr aus der Tür nehmen. Sie bestehen auf Mitgestaltung bei der wirtschaftlichen Transformation, wie das den deutschen Gewerkschaften im Rahmen des Strukturstärkungsgesetzes z.B. mit dem Projekt "Revierwende" gelungen ist. Französische und deutsche Gewerkschaften sind sich einig: Die Entwicklung wie in Großbritannien in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts, als große Industriezweige einfach dem Verfall preisgegeben wurden, darf es nicht geben. Diese Strategie brachte britischen Gewerkschaften schmerzliche Mitgliederverluste und endete mit dem negativen Ausgang des Brexit-Referendums und dem Austritt aus der Europäischen Union.

Voraussetzung für eine erfolgreiche Bekämpfung von Klimakrise und der Bewältigung der Corona-Pandemie sind gestaltungsstarke Gewerkschaften, betriebliche Mitbestimmung und innovative Konzepte für die Entwicklung neuer regionaler Industriecluster.


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