Deutscher Gewerkschaftsbund

05.07.2022
Frankreich

Erschöpfte Gewerkschaften zwischen den Wahlen

von Andreas Botsch, Susanne Wixforth, DGB

Der Kongress des größten französischen Gewerkschaftsdachverbandes CFDT fand zwischen den Präsidentschafts- und Wahlen zum französischen Parlament im Juni 2022 statt. Nun steht das Ergebnis fest: Durch die fehlende absolute Mehrheit im Parlament sieht Staatspräsident Macron schwierigen Zeiten entgegen. Da werden Gewerkschaften als Bündnispartner wieder interessant. Ob die CFDT aus dieser Situation Kapital schlagen kann, bleibt abzuwarten. Zu tief sitzt noch das Misstrauen aus den vergangenen 5 Jahren des macronschen „monarchischen Präsidentialismus“ unter Beteiligung von zufällig ausgewählten Bürger*innen unter Ausschluss der Gewerkschaften.

Logo französischer Gewerkschaftsbund Confédération Francaise Démocratique du Travail (CFDT)

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Frankreich gehört mit acht Prozent zu den Ländern Europas mit dem geringsten gewerkschaftlichen Organisationsgrad. Hinzu kommt die Zersplitterung in verschiedene rivalisierende Gewerkschaftsbünde, die um Mitglieder konkurrieren. Seit 2017 müssen die Gewerkschaften außerdem in den einzelnen Branchen mindestens acht Prozent der Stimmen erhalten, um bei Verhandlungen auf dieser Ebene als repräsentativ zu gelten.

Trotz des geringen Organisationsgrades und der Aufspaltung genießen die Gewerkschaften jedoch eine hohe Unterstützung bei den Wahlen für die Beschäftigtenvertreter*innen und sind in der Lage, die französischen Arbeitnehmer*innen mit Erfolg zu mobilisieren. So unter anderem am 13. Januar 2022: Laut Angaben der Gewerkschaften waren mehr als 75 Prozent der Lehrer*innen dem Streikaufruf gefolgt, die Hälfte der Schulen blieb geschlossen, rund 78.500 Lehrkräfte beteiligten sich an den Demonstrationen.

Neue Co-Habitation zwischen Gewerkschaften und Regierung?

Nach dem Wirtschaftseinbruch im Coronajahr 2020 um acht Prozent verkündete 2021 stolz Finanzminister Bruno Le Maire: "Die französische Wirtschaft hat sich spektakulär erholt und das hat die Wirtschaftskrise ausgelöscht". Die Konjunktur hatte um sieben Prozent angezogen, so stark wie seit 1969 nicht mehr. Um die Konjunktur auf diesem positiven Pfad zu halten, versprach die Regierung als Antwort auf die Rohstoffkrise als Folge des Ukrainekrieges einen Nahrungsmittelscheck, die Streichung des Rundfunkbeitrags, höhere steuerfreie Prämien sowie die Anhebung von Gehältern im öffentlichen Dienst, Sozialhilfen und Renten.

Doch weder positive Wirtschaftsdaten noch Wahlversprechen scheinen von den französischen Wähler*innen goutiert worden zu sein: Konnte Macron die Präsidentschaftswahl noch für sich entscheiden, so wurde aus den Parlamentswahlen eine „Sanktionsabstimmung“: Macron gewählt – Macron geschlagen, so zusammengefasst das Ergebnis. Die Abgeordnetenzahl der Präsidentschaftspartei „En Marche“ hat sich fast um die Hälfte reduziert. Das Bündnis Ensemble (En Marche, MoDem, Horizon und Agir) verfehlt deutlich die absolute Mehrheit. Macron schloss die Option der Parlamentsauflösung aus. So bleiben ihm nur zwei Optionen: ein Koalitionsvertrag oder für jedes Gesetzesvorhaben einzeln eine Mehrheit zu suchen. Beide bewirken eine Stärkung des Parlaments. Wie wir im Folgenden zeigen werden, ist die CFTD mit dem Kongressbeschluss vorbereitet, sich gegenüber dem „archaisch vertikalen Regierungsstil“ Macrons gewichtig einzubringen.

Regierungsbilanz: Schnauze-voll-Stimmung im Land

Eines der wichtigsten Themen auf dem Kongress war die Positionierung der CFDT zu der von Macron für seine zweite Amtszeit angekündigten Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters von 63 auf 65 Jahre. In einer Kampfabstimmung über Änderungsanträge entzog der Kongress der Gewerkschaftsführung jeglichen Verhandlungsspielraum: die bisher pragmatisch-reformistische CFDT, die Verhandlungen mit der Regierung immer zur obersten Priorität erklärt hatte, lehnt die Macronschen Reformpläne nunmehr pauschal ab.
Kaum eine andere Entscheidung des Kongresses spiegelt die „Schnauze voll“-Stimmung im ganzen Land besser wider. Der Parlamentswahlgang ergab eine historisch niedrige Wahlbeteiligung von nur 46%, eine linkspopulistische Opposition NUPES des EU-Gegners und Putin-Freundes Jean-Luc Mélenchon (131 Sitze), dicht gefolgt von der deutlich erstarkten extremen Rechten Marine Le Pen (89 Sitze). Sozialisten und Grüne wurden im Zuge der Wahlkreisaufstellungen von der NUPES pulverisiert, die ehemalige gaullistische Mehrheitspartei LR erhielt gerade mal 61 Sitze von 577.

und gewerkschaftliche Einheit auf dem Kongress

Im Kontrast dazu war der CFDT-Kongress eine Demonstration der Einheit und politischen Harmonie. Die Wahlen zur 150-köpfigen Commission Nationale brachten nahezu stalinistische Ergebnisse. Die niedrigste Zustimmungsrate für eine*n Kandidat*in lag bei knapp über 92 Prozent, die höchste bei über 98 Prozent der Stimmen. Im 10köpfigen Bureau National schließlich wurde Laurent Berger einstimmig für eine neue Amtszeit wiedergewählt.
1600 Delegierte, davon rund ein Drittel unter 35 Jahre alt, diskutierten über fünf Tage das zentrale Kongressdokument. Die Debatte war von schwierigen Rahmenbedingungen geprägt: Die Coronakrise hat die CFDT wie alle anderen Gewerkschaftsverbände in Frankreich wegen der starken Kontaktbeschränkungen schwer getroffen. Der Krieg in der Ukraine wird auch in der CFDT als schwerer Konflikt zwischen Demokratie und Menschenrechten einerseits und Diktatur und Verbrechen gegen die Menschlichkeit andererseits gesehen.

Und schließlich ist die wirtschaftliche Transformation Quelle großer Unsicherheiten. Sie bedarf der Kanalisierung und Gestaltung: „Die französische Gesellschaft ist erschöpft“, so das Fazit. Dennoch kann die CFDT eine Reihe von Erfolgen zeigen, die sie der Krise abgetrotzt hat. Die Zahl der von ihr ausgehandelten und unterschriebenen Tarifverträge ist trotz Pandemie gestiegen, die Einführung des Kurzarbeitergeldes hat die Beschäftigung weitgehend stabil und die Arbeitslosigkeit in Schach halten können. Wichtiger Erfolg in den Transformationsprozessen einzelner gefährdeter Branchen ist auch, dass Maßnahmen zur beruflichen Weiterbildung und Umorientierung nun vor der Restrukturierung der Unternehmen eingeleitet werden.

Ausblick: Die Prioritäten 2022-2026

Erstmalig steht die Stärkung der internen Organisationsstruktur der CFTD an erster Stelle, woraus alle Politikfelder abgeleitet werden. Der Rückgang der Wahlbeteiligung in den betrieblichen Wahlen ist beunruhigend für die demokratischen Beschäftigtenvertretungen. Die CFDT will die Plattformbeschäftigten besser organisieren, insbesondere bei Taxis (Uber) und den Lieferdiensten. Mit Stolz verweist sie darauf, dass Emmanuel Macron ihr das Konzept gesetzlich abgesicherter, transferierbarer und universeller Lebensarbeitszeitkonten „geklaut“ hat.

Weitere Kongressbeschlüsse umfassen die Forderung nach einem progressiveren Steuersystem, einem stärkeren, integrierten und sozialeren Europa, sowie nach Stärkung des Multilateralismus gegen nationale Egoismen, bei gleichzeitiger Stärkung Europas gegenüber den USA, Russland und China. Und so schließt sich der Kreis: Das ist auch die Regierungslinie von Emmanuel Macron. 


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