Deutscher Gewerkschaftsbund

14.12.2021

Strategische Autonomie für ein soziales und souveränes Europa

von Susanne Wixforth, DGB BVV

Während bis zum Vertrag von Lissabon die Errichtung einer politischen Union auf der Agenda stand, geriet dieses Fahrwasser seit der Wirtschafts- und Finanzkrise ins Schlingern. Im Weißbuch zur Zukunft der Europäischen Union stellte Kommissionspräsident Juncker fünf Szenarien zur Wahl, vom Rückschnitt auf einen Binnenmarkt zur Bildung einer politischen Union. Die Corona-Krise und die Klimaerwärmung machen eine globale Neuausrichtung erforderlich, da eine Zielerreichung durch nationale Alleingänge nicht möglich ist. Der DGB griff die Frage nach der Neugestaltung der europäischen Architektur gemeinsam mit der Friedrich Ebert Stiftung (FES) auf und diskutierte sie mit den europäischen Gewerkschafts-Dachverbänden und dem Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) im November 2021.

Europäische Flagge auf einer Mauer mit Schatten einer Menschenkette

DGB/lightwise/123RF.com

Der Begriff "Europäische Souveränität" wird in verschiedenen europäischen Ländern unterschiedlich bewertet, das zeigt die Umfrage der FES: Während der Begriff in Frankreich nur zu 29 Prozent positiv bewertet wird und mit dem Königtum verbunden ist, bewerten 73 Prozent der Deutschen den Begriff positiv. Sie verbinden ihn mit Unabhängigkeit und Freiheit. Gefragt nach der Zuordnung des Begriffs zu politischen Lagern wird er weder eindeutig links noch rechts verortet.

Das Gedicht "No man is an island" zeichnet ein Bild, das für die Europäische Union große Gültigkeit besitzt. Am globalen Tisch haben die Mitgliedstaaten nicht einzeln, sondern nur gemeinsam einen Platz. Deshalb ist es umso wichtiger die Frage zu stellen, wie viel Spielraum dem nationalen Eigeninteresse im Hinblick auf die strategische Autonomie und Souveränität der EU zugestanden wird. Maßnahmen auf einzelstaatlicher Ebene in den meisten Politikfeldern, wie Klima, industrielle Beziehungen, Pandemiebekämpfung, können nur gemeinsam zielführend verfolgt werden. "Wir müssen mehr Europa wagen", so die Kernthese des EGB.

So sieht das auch FNV, der niederländische Gewerkschaftsdachverband. Die Pandemie zeigt deutlicher als zuvor die Abhängigkeit der EU. Dabei sollte die EU in der Lage sein, sich in strategisch wichtigen Bereichen selbst zu versorgen und gegen strategische Übernahmen von Unternehmen aus Drittstaaten zur Wehr zu setzen. Die Versorgung mit medizinischen Produkten, Halbleitern und Computerchips muss sichergestellt werden. Es bedarf einer konsequenten Klimapolitik, um die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern abzubauen.

Gewerkschaften zu stärken festigt nicht nur die demokratische Legitimität, sondern bringt auch eine informierte Stimme in die Politik, da Gewerkschaften durch das Fachwissen ihrer Mitglieder Antworten auf und Lösungen für wichtige Fragen bieten. Wichtig ist es auch, die Interessen der Beschäftigten im Binnenmarkt zu schützen. Sie sind kein Kostenfaktor, sondern das Fundament unserer Wirtschaft. Der Wettbewerb der niedrigsten Standards muss enden und soziale Defizite benannt und behoben werden. Nur so können die Beschäftigten vom Projekt Europa überzeugt bleiben.

Ein wichtiger Etappenschritt ist dabei die Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte in konkrete, einklagbare Rechte. Die digitale und CO2-neutrale Wirtschaft müssen fair, der Handel muss nachhaltig gestaltet werden. Die Liberalisierung des Binnenmarkts muss enden und die sozialen Standards müssen gestärkt werden. Der Ausverkauf wichtiger strategischer Industrien von Mitgliedstaaten an China muss gestoppt werden. Eine resiliente EU begegnet der Rohstoffabhängigkeit mit Innovationen und stellt die Produktion in Europa sicher.

Auch Frankreich will die strategische Autonomie Europas in den Fokus seiner kommenden Ratspräsidentschaft in der ersten Jahreshälfte 2022 stellen. Die COVID-19-Krise zeigte die Verwundbarkeit des Gesundheitssystems. Das war ein Schock für die französische Bevölkerung, da große Stücke auf das eigene Gesundheitswesen gehalten werden. Vor allem wurden die fehlenden Produktionskapazitäten im medizinischen Bereich sichtbar (Masken, Medikamente, Desinfektionsmittel). In Frankreich sind deshalb zwei Fragen eminent. Sollte das Verhältnis zwischen Marktwirtschaft und Staat geändert werden? Schützt mich die EU oder Frankreich in Krisenzeiten?

Insgesamt unterstützen die an der Veranstaltung teilnehmenden Dachgewerkschaften ein starkes autonomes Europa. Die Pandemie zeigt die Relevanz von europäischer Souveränität und strategischer Autonomie auf. Die Grenzschließungen trieben die Nationalstaaten auseinander und machten zugleich die starke wirtschaftliche Abhängigkeit sichtbar. Die EU muss das europäische Sozialmodell offensiv fördern und darf nicht in zwischenstaatlichen Protektionismus zurückfallen.


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