Deutscher Gewerkschaftsbund

09.05.2022

Echte Bürgerbeteiligung oder Symbolpolitik?

von Gabriele Bischoff, Mitglied des Europäischen Parlaments

Ein Jahr lang haben Europäer*innen in der "Konferenz zur Zukunft Europas" darüber gesprochen, wie sich die Europäische Union verändern muss. Ihre Vorschläge könnten helfen, die EU an neue Herausforderungen anzupassen. Doch konnte die Konferenz halten, was sie versprochen hat?

Europäische Flagge auf einer Mauer mit Schatten einer Menschenkette

DGB/lightwise/123RF.com

Wütende Bürger*innen und ein stummer Rat

„Das Hashtag zur Zukunftskonferenz lautet #MakeYourVoiceHeard (zu deutsch: Verschaffe Dir Gehör), aber gleichzeitig werden wir zum Schweigen gebracht, bis wir verschwunden sind.“

Diese erschütternde Aussage stammt von einem Teilnehmer der Konferenz zur Zukunft Europas, der gemeinsam mit vielen anderen Bürger*innen Ideen und Verbesserungsvorschläge für die Europapolitik der nächsten Jahre erarbeitet hat. Er ist nicht alleine mit dieser Ansicht, die er bei einer Sitzung der Konferenz Mitte März geäußert hat. Viele weitere Teilnehmer*innen im Raum sind aufgestanden, um seine Kritik an den EU-Institutionen zu unterstützen.

Woher stammt die Frustration der Bürger*innen? Der Auslöser für den Protest war die Erklärung des Rates, bis zum Ende der Konferenz nicht zu den Vorschlägen der Bürger*innen Stellung nehmen zu wollen. Ebenso wenig gibt es ein klares Bekenntnis aus dem Rat oder der Kommission, dass die Vorschläge der Bürger*innen in konkrete politische Maßnahmen umgesetzt werden. Und die Uhr tickt: Bereits am 9. Mai soll die Zukunftskonferenz enden.

Ein feierlicher Abschluss am Europatag ist symbolisch sehr schön. In der Praxis ist dieser Zeitplan aber ein furchtbares Zeichen an die Bürger*innen, die wertvolle Ideen und viele Stunden ihrer Freizeit in diesen Beteiligungsprozess eingebracht haben.

Wie kann die EU dabei helfen, den Klimawandel einzudämmen? Wie erreichen wir eine faire Verteilung von Geflüchteten in der EU? Wie soll die Arbeitswelt von morgen aussehen? Zu all diesen Themen haben die repräsentativ ausgewählten Teilnehmer*innen 178 konkrete Vorschläge in Diskussionsforen erarbeitet. Sie werden jetzt im Plenum der Konferenz mit Sozialpartnern, Vertreter*innen der EU-Institutionen und der Zivilgesellschaft diskutiert und abgestimmt.

Die inhaltlichen Debatten haben gerade erst begonnen. Wir brauchen mehr Zeit, denn Partizipationsprozesse funktionieren nicht im Schnellverfahren. Die Bürger*innen haben uns ermahnt, jetzt nicht einfach zur Tagesordnung zurückzukehren. Bei mir ist diese Botschaft angekommen. Es wäre eine verpasste Chance für die EU, wenn die Ideen aus der Zukunftskonferenz in unseren Schubladen verstauben würden, statt zu einem Wandel in der Europapolitik beizutragen.

Faire Mindestlöhne und mehr Work-Life-Balance: Die Bürger*innen wollen einen sozialen Aufschwung in Europa

Das Kernanliegen der Konferenz bestand darin, die Handlungsfähigkeit Europas zu stärken und eine demokratischere, sozialere und nachhaltigere EU zu schaffen. Nachdem ich mir ein Jahr lang die Vorschläge der Bürger*innen bei zahlreichen Veranstaltungen angehört habe, bin ich überzeugt davon, dass uns die Konferenz zur Zukunft Europas konkrete Handlungsschritte für den Weg dahin liefert.

Die zunehmende Ungleichheit und soziale Spaltung zählen zu unseren größten Herausforderungen in der EU. Der Wiederaufbau der Wirtschaft nach der Corona-Pandemie wird aktuell durch die starke Inflation und den Krieg in der Ukraine erschwert. Energiearmut ist bereits jetzt ein großes Problem und für viele Europäer*innen stellt sich nicht die Frage, ob sie aus Solidarität mit der Ukraine die Heizung um einen Grad runterdrehen. Ihre Wohnungen sind ohnehin seit Monaten kalt, weil ihre Löhne oder Renten nicht ausreichen, um die Heizkosten zu stemmen. Jede*r zehnte*r Arbeitnehmer*in in der EU kommt mit seinem Gehalt nicht gut über die Runden.

Diese sozialen Probleme hatten einen hohen Stellenwert bei den Diskussionen der Bürger*innen. Ich habe mich im Rahmen der Zukunftskonferenz besonders mit den Ideen zur Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik der EU auseinandergesetzt. Es macht mir Mut, dass die Vorschläge aus den Bürger*innenforen unserer europäischen Sozialpolitik Aufwind geben. Eine Forderung lautet beispielsweise, dass EU-weit Mindestlöhne eingeführt werden sollen, um die Lebensverhältnisse anzugleichen. Im Europäischen Parlament haben wir im Dezember 2021 den Weg für einen europäischen Rahmen für armutsfeste Mindestlöhne geebnet. Jetzt müssen sich der Rat und das Parlament auf einen gemeinsamen Gesetzestext einigen. Mit der Rückendeckung der Bürger*innen erreichen wie hier hoffentlich bald ein Ergebnis.

Kann die Konferenz zur Zukunft Europas halten, was sie verspricht?

Trotz aller Zweifel und Enttäuschungen kann ich ein positives Fazit aus der Konferenz zur Zukunft Europas ziehen. Die sozialdemokratische Fraktion im Europäischen Parlament hat im Rahmen der Konferenz viele Veranstaltungen in der EU organisiert. Ich habe in Malta, Italien, Ungarn und in deutschen Städten mit Bürger*innen darüber diskutiert, was sich ihrer Meinung nach in Europa ändern muss. Ich wurde nicht mit Luftschlössern konfrontiert, sondern mit ganz konkreten Lösungsvorschlägen, die sich oft an Best-Practice-Beispielen aus den jeweiligen Regionen orientiert haben. Im Saarland haben Teilnehmer*innen einer Veranstaltung vorgeschlagen, die Stelle einer EU-Ombudsfrau bzw. eines Ombudsmanns für mobile Beschäftigte in der EU zu schaffen. So eine Ansprechperson für die Belange der Grenzpendler*innen, entsandten Beschäftigten oder Saisonarbeiter*innen gibt es bisher nicht, obwohl diese grenzüberschreitend arbeitenden Europäer*innen mit vielfältiger Diskriminierung und Problemen konfrontiert sind.

Auch in meinem Wahlkreis in Berlin hat die Konferenz positive Effekte, die über den 9. Mai hinweg anhalten werden. Es ist uns gelungen, Multiplikator*innen vor Ort einzubinden, um für die Zukunftskonferenz zu werben. In Berlin hat sich unter dem Dach der Europäischen Akademie eine Initiative aus Politiker*innen, Mitgliedern der Verwaltung, Künstler*innen und Vereinen zu diesem Zweck zusammengefunden. Als Berliner Europaabgeordnete habe ich dieses Bündnis mitinitiiert und setze mich dafür ein, dass unser Netzwerk weiterwächst. Wir haben mit Schulen, Sportvereinen und Theatern zusammengearbeitet, um den Berliner*innen die Europapolitik näher zu bringen.

Die entscheidende Frage lautet jetzt: Was passiert mit den Vorschlägen der Bürger*innen? Kann die Konferenz zur Zukunft Europas halten, was sie versprochen hat? Die Ideen wurden gesammelt, gebündelt und zunächst in thematischen Arbeitsgruppen diskutiert. Anschließend wurden sie im Plenum der Konferenz vorgestellt, diskutiert und ergänzt. In einem letzten Schritt werden die Vorschläge in einer abschließenden Plenarsitzung abgestimmt und fließen in einen Abschlussbericht ein.

Es ist noch offen, wie und wann die Vorschläge danach umgesetzt werden. Ich habe Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Anfang April bei einer Fragerunde im Europäischen Parlament gefragt, ob sie bei ihrer Aussage bleibt, dass sie offen für eine Änderung der EU-Verträge sei. Sie hat bejaht: Man müsse aber abwarten, ob die Vorschläge der Bürger*innen eine solche Änderung erforderlich machen, oder sich im Rahmen der Verträge umsetzen lassen. Ich hoffe sehr, dass ein Europäischer Konvent zur Änderung der Verträge auf die Konferenz folgt, denn nur so können wir uns vom Einstimmigkeitsprinzip befreien, das bislang in vielen Politikfeldern notwendig ist, und die Handlungsfähigkeit der EU nachhaltig stärken. Für einen erfolgreichen Neustart in die Zukunft Europas müssen wir Bremsklötze, wie die Einstimmigkeit bei der Entscheidungsfindung hinter uns lassen und brauchen mehr europäische Kompetenzen in der Sozialpolitik.

 


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