Mit der "Agenda 2010" hat sich der Niedriglohnsektor in Deutschland deutlich vergrößert. Erst die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns hat diesen Bereich zurückgedrängt. Trotzdem hat Deutschland einen der größten Niedriglohnsektoren in Europa und das Armutsrisiko droht wieder zu steigen. Wir brauchen deshalb starke Gewerkschaften, die mit Tarifverträgen für gerechte Löhne sorgen.
Mit dem Konzept der "Agenda 2010" und den Hartz-Reformen wurde vor rund 20 Jahren gegen den Widerstand der Gewerkschaften auch der Niedriglohnsektor in Deutschland deutlich vergrößert. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat dieser Tage eine Studie veröffentlicht, die zeigt, dass es nunmehr gelungen ist, diesen Anteil der Arbeitsverhältnisse, in denen weniger als zwei Drittel des mittleren Einkommens (Median) verdient wird, wieder deutlich zu verkleinern.
Die Untersuchung belegt, dass der Niedriglohnsektor, der im Jahre 2000 noch 18,8 Prozent der Beschäftigten umfasste, binnen sieben Jahren auf 23,6 Prozent anstieg, sich ein Jahrzehnt kaum verringerte, bevor er dann ab 2017 von 23,1 Prozent deutlich auf 15,2 Prozent im Jahre 2022 schrumpfte (siehe Grafik). Als Ursache für die Trendumkehr führt die Studie neben der Einführung und Erhöhungen des gesetzlichen Mindestlohns, für den die DGB-Gewerkschaften an vorderster Front stritten, auch die veränderte gewerkschaftliche Lohnpolitik in den Tarifauseinandersetzungen an. Diese würde nicht mehr allein auf pauschale prozentuale Lohnsteigerungen, sondern auch stärker auf Mindestzahlungen für untere Lohngruppen setzen.
Die Studie macht auch in anderer Hinsicht deutlich, dass es gerade für Beschäftigte der unteren Lohngruppen von besonderer Bedeutung ist, sich zu organisieren und für Tarifverträge zu kämpfen. So hat die Gruppe der Beschäftigten mit Anlern- oder Helfertätigkeiten nicht automatisch von der zuletzt positiven Gesamtentwicklung profitiert. Denn die Studie zeigt, dass deren reale Stundenlöhne aktuell immer noch unter dem Niveau des Jahres 1995 liegen. Mit Tarifvertrag sind sie dann allerdings 17 Prozent höher. Auch deshalb ist es wichtig, die Geltung von Tarifverträgen auszuweiten und die #tarifwende einzuleiten.
DGB/Quelle: DIW Wochenbericht 5/ 2024
So erfreulich die aktuelle Entwicklung ist, so hat Deutschland auf der anderen Seite nach wie vor einen der größten Niedriglohnsektoren in Europa. Auch ist eine abermalige Trendumkehr nicht ausgeschlossen. Die unzureichende Erhöhung des Mindestlohns und die Verweigerung der Arbeitgeberseite in der Mindestlohnkommission im Lichte der Inflationsentwicklung den Mindestlohn nachzuverhandeln, drohen das Armutsrisiko für viele Menschen wieder steigen zu lassen.
Aber auch der seit acht Monaten laufenden Tarifauseinandersetzung im Einzelhandel kommt hohe Bedeutung zu. Während REWE und Co. ihre Umsätze beständig erhöhen, stellte der Einzelhandel 2020 mit fast 17 Prozent einen sehr großen Anteil am Niedriglohnsektor. Innerhalb der Branche sind sogar 41 Prozent im Niedriglohnbereich beschäftigt. Nach ver.di sind 90 Prozent der Beschäftigten von Altersarmut bedroht.
Auch deshalb fordert die Gewerkschaft deutliche Lohnerhöhungen, die vor allem den Kolleg*innen der unteren Lohngruppen überdurchschnittlich zugutekämen. Währenddessen wollen die Unternehmen ihren Beschäftigten noch nicht einmal annähernd die Reallöhne sichern und setzen offensichtlich weiter auf das Geschäftsmodell "Ausbeutung durch Billiglöhne". Dieser Masche wird man auch mit dem aktuellen Mindestlohn nicht Herr. Deshalb sind starke und durchsetzungsfähige Gewerkschaften und die Solidarität mit ihnen durch nichts zu ersetzen.
DGB/hqrloveq/123rf.com
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