Deutscher Gewerkschaftsbund

16.05.2011
Annelie Buntenbach im Interview

EGB-Kongress: Für eine "Soziale Fortschrittsklausel"

Vier Tage diskutieren 500 Delegierte aus 82 Gewerkschaftsbünden über gewerkschaftliche Strategien für Europa. DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach im Interview.

Vom 16. bis 19. Mai 2011 findet der 12. Kongress des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) in Athen statt. Finanz- und Wirtschaftskrise, Umweltkatastrophen und Flüchtlingsdramen - der EGB durchlebt zur Zeit die wohl schwierigste Phase seiner fast 40-jährigen Geschichte. Mit welcher Strategie wird er in die nächsten vier Jahre starten?

Annelie Buntenbach: Die 82 Mitgliedsverbände des EGB haben sich für die nächste "Legislaturperiode" in der Tat ein gewaltiges Arbeitspensum vorgenommen. Seine politisch-strategischen Grundlagen und die Aktionen, die daraus folgen, füllen ein etwa 80 Seiten starkes Dokument. Darüber werden die rund 500 Kongressdelegierten in Athen beraten.

Zwei Aufgabenblöcke stehen dabei im Zentrum: Zum einen muss der EGB die Europäische Union, bzw. die nationalen Regierungen, zu einer Kehrtwende ihrer derzeit betriebenen Finanz- und Wirtschaftspolitik bewegen – und zwar unter Einsatz von Fachkompetenz, politischer Phantasie und massiver Mobilisierung der Öffentlichkeit. Zum anderen wird der EGB alles daran setzen, den europäischen Wohlfahrtsstaat - das soziale Europa - zu erhalten und fortzuentwickeln - trotz oder gerade wegen der um sich greifenden Eurokrise.

Der EGB hat sich eingehend mit den Vorschlägen und Entscheidungen auseinandergesetzt, die die EU zur künftigen Ausschaltung der Krisenursachen und zur Eindämmung der schlimmsten Krisenfolgen vorgelegt oder realisiert hat. Er weist nach, dass vor allem die im sogenannten EURO-Pakt plus enthaltenen Maßnahmen den stark verschuldeten Mitgliedstaaten keinen Königsweg aus der Misere weisen, sondern eher das Ausbluten der Wirtschaftskraft fördern werden. Doch welche Alternativen empfiehlt der EGB?

Alle wirtschafts- und finanzpolitischen Alternativvorschläge der europäischen Gewerkschaften basieren auf der Erkenntnis bzw. der Erfahrung, dass die schlimmste Finanz- und Wirtschaftskrise seit den Dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts durch die maßlosen, ungezügelten und völlig intransparenten Transaktionen und Spekulationen der globalen Finanzwelt verursacht wurden. Weder angeblich überhöhte Lohneinkommen der Beschäftigten noch die angeblich überdimensionierten Kosten des Sozialstaats haben die mit den Bankencrashs einhergehenden wirtschaftlichen Erschütterungen zu verschulden - nicht einmal in Griechenland! Daher setzt der EGB bei den tatsächlichen Ursachen und den Verursachern der Krise an. Der EGB lehnt solche Vorschläge ab, die die Kosten der wirtschaftlichen Sanierung und der Krisenbewältigung weitgehend allein den Beschäftigen, den Bürgern und Bürgerinnen, den Steuerzahlern aufbürden wollen. Der EGB fordert eine Finanztransaktionssteuer einzuführen, eine unabhängige Ratingagentur zu installieren und will gemeinsam mit dem Europäischen Parlament und einschlägigen Nicht-Regierungsorganisationen für die Einrichtung einer Finanz-Beobachtungsstelle werben.

Außerdem plädiert der EGB für die Wiederbelebung „kleinteiliger Finanzlandschaften" und damit für eine Entschleunigung der Geschäftsaktivitäten, für vereinfachte Strukturen und die Rückführung des Finanzsektors zu seinen ursprünglichen Aufgaben, nämlich der Bereitstellung von investivem Kapital - das Ganze transparent und unter demokratischer Kontrolle.

An dieser Stelle kommt für den EGB auch die Mitbestimmung der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen ins Spiel. Die Rechte der Beschäftigten auf Information, Konsultation und Partizipation müssen europaweit gestärkt werden, um auch auf diesem Wege offensichtlich riskante Finanzgeschäfte zu blockieren, zumindest aber auf diese aufmerksam zu machen.

Am 1. Mai 2011 fielen die letzten Schranken, die den freien Zugang aller Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen auf den Arbeitsmärkten aller Mitgliedstaaten blockierten. Ausnahmen gelten weiterhin für Bulgarien und Rumänien. Wie will der EGB angesichts des steigenden Wettbewerbdrucks die Gefahr von Lohn- und Sozialdumping ausschalten oder vermindern?

Wir brauchen in Europa dringend gleichen Lohn und gleiche Rechte! Der EGB hält die Verankerung einer "Soziale Fortschrittsklausel" für eines der wichtigsten Elemente im Kampf gegen Lohn- und Sozialdumping, um im Grundlagenvertrag klarzustellen, dass in Europa nicht Unternehmerfreiheiten Vorfahrt vor Arbeitnehmerrechten haben. Doch es gibt weit mehr Möglichkeiten zur Verhinderung zunehmenden Wettbewerbdrucks nach unten auf den Arbeitsmärkten. Dazu gehört die Revision der Entsenderichtlinie. Eine runderneuerte Entsenderichtlinie muss klarstellen, dass für alle Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die am gleichen Arbeitsort die gleiche Arbeit leisten, die an diesem Standort üblichen Arbeitsbedingungen und Lohnhöhen gelten. Der EGB plädiert für die unbedingte Anwendung der jeweils geltenden Kollektivverträge, ungeachtet ihres jeweiligen - lokalen - Geltungsbereichs, seien sie mit oder ohne allgemeingültige Wirkung.

Um den Forderungen des EGB Nachdruck zu verschaffen, hat der DGB in Zusammenarbeit mit den fünf Dachverbänden der französischen Gewerkschaften den Vorschlag für eine gemeinsame EGB-Kampagne entwickelt. Unter dem Motto "Gleicher Lohn und gleiche Rechte" soll ein breites Bündnis verschiedenster Akteure - EGB-Mitgliedsverbände, nationale und sektorale Arbeitnehmerorganisationen, Betriebsräte, Eurobetriebsräte, Vertreter der zivilgesellschaftlichen Verbände Aktivitäten auf der europäischen und je nationalen Ebene miteinander verbinden, um die Auswüchse von Sozial- und Lohndumping in den Betrieben wo immer möglich aufzudecken und zu unterbinden.

Spätestens seit Mitte der 1980er Jahre setzen sich die europäischen Gewerkschaften dafür ein, die Union der - bislang - 27 Mitgliedstaaten zu einem Wohlfahrtsstaat gemäß den europäischen Traditionen zu formen. Wenngleich das "Soziale Europa" noch immer mehr Vision denn Wirklichkeit ist, so wurde der Standard des durch europäisches Recht verbrieften sozialen Schutzes doch bis heute kontinuierlich verbessert. Wird der EGB angesichts der enormen wirtschaftlichen Probleme, die die Haushalte einer ganzen Reihe von Mitgliedstaaten vermutlich noch auf Jahre hinaus belasten werden, an einem weiteren Ausbau des "Europäischen Sozialmodells" festhalten?

Soziale Rechte, sozialer Zusammenhalt und der soziale Dialog - sind die Kernelemente des "Europäischen Sozialmodells". Und zwar nicht nur für die Gewerkschaften! Diese Werte formen das Herzstück der europäischen Verträge. Sie verpflichten Mitgliedstaaten und EU-Institutionen, bei allen politischen Entscheidungen die sozialen Belange zu berücksichtigen. Für die Gewerkschaften bilden diese Werte die Grundvoraussetzung für die Unterstützung der europäischen Integration. Dies gilt unter allen wirtschaftlichen und finanzpolitischen Bedingungen, ganz besonders aber in Zeiten tiefer wirtschaftlicher Krisen.

Denn dann tendieren die Regierenden dazu - vor allem die, die blindes Vertrauen in die angeblichen Selbstheilungskräfte des Marktes und des Wettbewerbs setzen -, Sozialpolitik nur noch als Korrektiv für die wüstesten Auswüchse wirtschaftsliberaler Praxis zu nutzen oder das Niveau des sozialen Schutzes zu senken. Die massiven sozialpolitischen und arbeitsrechtlichen Einschnitte, die die Regierungen Griechenlands, Portugals, Spaniens und Irlands jüngst nach den Vorgaben des Europäischen Rats vornehmen mussten, führen immer tiefer ins wirtschaftliche, soziale und schließlich ins politische Abseits. Stattdessen fordert der EGB eine Rückbesinnung auf die sozialstaatlichen Traditionen Europas. Er fordert insbesondere die EU-Kommission auf, so schnell wie möglich wieder eine ehrgeizige Sozialagenda zu erarbeiten - mit neuen Legislativvorschlägen, die bestehende arbeits- und sozialrechtliche Standards wahren und neue, die nötig sind, einführen. Dies ist umso wichtiger, weil es zwischen den Mitgliedstaaten nach wie vor ein großes Gefälle bei den sozialen Rechten gibt. Das droht unter verschärften Wettbewerbsbedingungen zu Lohn- und Sozialdumping zu führen.

Der Gefahr einer Abwärtsentwicklung der erreichten sozialen Standards will der EGB die vertragliche Verankerung eines  "Sozialen Fortschrittsprotokolls" entgegensetzen. So soll der Vorrang der sozialen Grundrechte gegenüber den Freiheiten des Binnenmarktes und des Wettbewerbs im Primärrecht, also im Vertrag über die Arbeitsweise der EU gesichert werden. Darüber hinaus plädieren die Gewerkschaften auch für eine zusätzliche Verordnung, die die sozialen Grundrechte auch sekundärrechtlich fixieren soll. Als Modell dafür gilt hier die aus dem Jahre 1998 stammende so genannte. Monti-Klausel.

Wird der EGB für die kommenden vier Jahre die erforderliche Man- und Woman-Power haben, um das umfangreiche Aktionsprogramm auch tatsächlich Wirklichkeit werden zu lassen?

Der EGB startet runderneuert in die nächste Periode. Der bisherige Generalsekretär, der TUC-Gewerkschafter John Monks, wird nach 8 Mandatsjahren in Rente gehen. Als seine Nachfolgerin wurde Bernadette Ségol, die derzeitige Vorsitzende von UNI-Europe, benannt. Fünf der weiteren sechs Mitglieder des Sekretariats - dieses Gremium leitet die Geschäfte des EGB - sind neu, wenn auch keineswegs unerfahren im europäischen Gewerkschaftsgeschäft.

Das neue Sekretariat tritt in schwierigen Zeiten ein schwieriges Amt an. Europäische Gewerkschaftspolitik zu gestalten und in die Praxis umzusetzen, ist jedoch nicht allein Aufgabe des EGB-Sekretariats. Alle Mitgliedsverbände sind gefordert. Nur gemeinsames Engagement und Nachdruck werden dem EGB eine einflussreiche Stellung und den 500 Millionen Europäern und Europäerinnen ein soziales, lebens- und liebenswertes Europa sichern.


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