Der Krieg und seine Folgen haben die deutsche Gesellschaft von Grund auf verändert. Infolge von Vertreibung, Massenflucht und dem Wirtschaftswunder der jungen Republik verschwinden die sozialen Milieus und Strukturen der Vorkriegszeit, die traditionelle Klassengesellschaft befindet sich in Auflösung. Auch die Gewerkschaften haben daran Anteil: Ihre Tarifpolitik sorgt dafür, dass sich der soziale Wandel beschleunigt.
Freiheit kennt keine Mauer. 1. Mai– Kundgebung 1963 vor dem Reichstagsgebäude auf dem Platz der Republik. Archiv der sozialen Demokratie in der Friedrich-Ebert-Stiftung
Der Glaube an die Klassengesellschaft
Nicht nur die SPD reagiert mit ihrem Godesberger Programm auf diese Veränderungen. Auch der DGB will 1959 seine Grundsätze an die Wirklichkeit anpassen. Doch es soll noch vier Jahre dauern, bis der DGB in Düsseldorf die Soziale Marktwirtschaft anerkennt.
Die Gewerkschaften förderten mit ihrer Tarifpolitik auch einen tiefgreifenden sozialen Wandel in Deutschland, der allerdings durch weitere Faktoren beeinflusst wurde. Krieg, Vertreibung, Flucht und Wirtschaftswunder wirbelten die traditionellen sozialen Milieus, wie sie sich im alten Reich verfestigt hatten, kräftig durcheinander. Zwar verschwanden sie nicht in einer „nivellierten Mittelschichtsgesellschaft“, wie zeitgenössische Sozialwissenschaftler annahmen. Traditionelle Arbeitermilieus, wie sie in der Weimarer Republik noch existierten, entstanden in der Bundesrepublik aber nicht wieder neu.
Die SPD versuchte, dieser Entwicklung mit der Abwendung von sozialistischen Forderungen und dem Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft in ihrem Godesberger Programm von 1959 gerecht zu werden. Auch der DGB beschloss auf seinem Stuttgarter Kongress 1959, seine bisherigen Grundsätze zu überdenken und sich ein neues Grundsatzprogramm zu geben.
Maiplakat 1960 – 70 Jahre 1. Mai
Die Reformer um Georg Leber (IG Bau–Steine–Erden), Heinrich Gutermuth (IG Bergbau und Energie) und Ludwig Rosenberg, der 1962 zum DGB–Bundesvorsitzenden gewählt werden sollte, stießen jedoch auf den Widerstand der IG Metall unter ihrem Vorsitzenden Otto Brenner und anderer Gewerkschafter. Diese gingen von der Fortexistenz der Klassengesellschaft aus und hielten an den Leitsätzen des DGB-Gründungskongresses von 1949 fest. Dazu gehörten insbesondere die Forderungen nach Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum, nach Mitbestimmung und nach volkswirtschaftlicher Rahmenplanung.
Eine Einigung gelang 1963 mit dem Düsseldorfer Grundsatzprogramm. Ähnlich wie die SPD in Godesberg bekannte sich der DGB zwar zur Sozialen Marktwirtschaft, forderte aber die paritätische Mitbestimmung. Zugleich erhielt er aber Forderungen nach staatlicher Planung und Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien aufrecht – ein Kompromiss. Neu war, dass die Gewerkschafter sich verstärkt der Bildungspolitik zuwandten, weil sie glaubten, ihre Forderung nach einer Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft nur auf der Grundlage eines demokratisierten und durchlässigen Bildungswesens realisieren zu können.