Die effektive Absicherung sozialer (Grund-)Rechte auf nationaler, aber auch auf europäischer und internationaler Ebene ist für abhängig Beschäftigte von grundlegender Bedeutung. Dies gilt auch besonders für Gewerkschaftsrechte einschließlich des Streikrechts oder den Kündigungsschutz.
DGB/zerbor/123rf.com
„Wir begrüßen daher die geplante Ratifizierung der Revidierten Europäischen Sozialcharta“, so DGB-Vorstandmitglied Anja Piel. „Damit wird einer jahrzehntelangen gewerkschaftlichen Forderung entsprochen. Die vorgesehene Ratifizierung ist jedoch inhaltlich unzureichend und trägt ebenfalls nicht dem Gesamtansatz einer umfassenden Absicherung sozialer Rechte Rechnung.“
Es gibt nach Maßgabe der vorliegenden Fassung dieses Gesetzentwurfs eines Vertragsgesetzes weiterhin zahlreiche rechtliche Einschränkungen und Defizite für die notwendige Anerkennung sozialer Rechte und Verpflichtungen, die bis zu einer Verabschiedung beseitigt werden sollten. Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften halten es insoweit für essentiell,
Am 6. Mai 2020 hat das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf zu einem „Vertragsgesetz zur Revision der Europäischen Sozialcharta vom 3. Mai 1996“ vorgelegt. Zu diesem Gesetzentwurf hatte der Deutsche Gewerkschaftsbund eine umfangreiche Stellungnahme abgegeben (zu Einzelheiten der Stellungnahme).
Statt diese Kritikpunkte aufzugreifen, hat die Bundesregierung zwei weitere Verschlechterungen (zu Art. 7 der RESC) in den Kabinettsentwurf aufgenommen:
Die erste und zentrale Verschlechterung betrifft die weitere Nichtanerkennung von Art. 7 (Das Recht der Kinder und Jugendlichen auf Schutz) Abs. 1 RESC (Kinderarbeit; Zurücknahme einer zunächst vorgesehenen Änderung des JArbSchG!). Die zweite betrifft eine zusätzliche (einschränkende) Auslegungserklärung zu Art. 7 Abs. 5 RESC.
Deutschland hat ab November 2020 die sechsmonatige Präsidentschaft des Europarats inne. Dafür möchte die Bundesregierung ein Vorzeigeprojekt nutzen: die Ratifizierung der Revidierten Europäischen Sozialcharta. Das ist grundsätzlich zu begrüßen. Die vorliegende Fassung des Gesetzentwurfs für das Vertragsgesetz zu ihrer Ratifizierung ist jedoch zu wenig, um den Europaratsvorsitz zu schmücken. Auch wird diese große Chance nicht genutzt, einen sozialen Fortschritt damit zu verbinden. Umgekehrt wird vielmehr versucht, durch sogenannte „Vorbehalte“ und „Auslegungserklärungen“ sowie durch Nichtannahme bzw. Nichtratifizierung wichtiger Protokolle bzw. Artikel die Bedeutung der RESC deutlich einzuschränken.
Durch den Gesetzentwurf zum Vertragsgesetz zur Revision der Europäischen Sozialcharta vom 3. Mai 1996 erfolgt die Ratifizierung der Revidierten Europäischen Sozialcharta (RESC) des Europarates vom 3. Mai 1996, die die Bundesrepublik Deutschland bereits am 29. Juni 2007 unterzeichnet. Der Gesetzentwurf kommt ferner einem mit breiter Mehrheit am 17. Mai 2019 vom Deutschen Bundestag angenommenen Beschluss mit der Aufforderung an die Bundesregierung nach, dem Parlament u.a. einen Gesetzentwurf zur RESC vorzulegen (BT-Drs. 19/10146; Plenarprotokoll 19/102 vom 17. Mai 2019, TOP 28, Seite 12463C). Nach Auffassung der Bundesregierung werden die wichtigen Arbeits- und Sozialstandards der Europäischen Sozialcharta in innerdeutsches Recht überführt. Damit folge Deutschland 34 anderen europäischen Staaten, die die Charta bereits ratifiziert haben:
Tatsächlich hat die Bundesregierung jedoch angekündigt, die RESC gerade nicht umfassend zu ratifizieren. Stattdessen hat sie eine Vielzahl von „Ratifizierungsvorbehalten“ erklärt (Grund- und Menschenrechte aus der RESC, die für Deutschland dann nicht gelten). Zusätzlich hat die Bundesregierung in dem Gesetzentwurf „Auslegungserklärungen“ formuliert, mit denen sie versucht, der RESC ihr Verständnis zugrunde zu legen. Dies ist deutlich zu kritisieren.
Der DGB hat dafür einige Ratifizierungserfordernisse besonders hervorgehoben. Dies betrifft insbesondere das Recht auf Schutz bei Kündigung (Art. 24 RESC), das Recht auf Unterrichtung und Anhörung (Art. 21 RESC), das Recht auf Beteiligung an der Festlegung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Arbeitsumwelt (Art. 22 RESC) sowie die Ratifizierung des „Kollektiven Beschwerdeprotokolls“.
Aus Sicht des DGB trägt die Begründung der Bundesregierung gegenüber den Ratifikationsvorbehalten zu Art. 21, 22 und 24 nicht; sie sollten gestrichen werden:
Die Argumentation ist der zu Art. 21 vergleichbar. Auch dem Art. 22 RESC gleichlautende Rechte und Verbindlichkeiten sind im Recht der EU bereits verankert: vgl. Artikel 153 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union; die Rahmenrichtlinie 89/391/EWG, die Grundlage war für mehr als 25 Einzelrichtlinien zu unterschiedlichen Bereichen und für die VO (EG) Nr. 2062/94, nebst der Überarbeitung dieser Richtlinien.
Für eine Ratifizierung des Art. 24 RESC (Recht auf Schutz bei Kündigung) spricht im Gegensatz zum Vorbehalt der Bundesregierung:
Das ‚Recht auf Schutz bei Kündigung‘ ist neu in Art. 24 RESC aufgenommen worden. Da die Einschränkung des Kündigungsschutzes durch die Kleinbetriebsklausel (§ 23 Abs. 1 S. 3 KSchG) gegen Art. 24 RESC verstoße, soll er laut vorliegendem Gesetzentwurf von der Ratifizierung ausgenommen werden. Aber das Grundrecht auf Schutz vor ungerechtfertigtem Verlust des Arbeitsplatzes kann grundsätzlich nicht von der Größe des Betriebs abhängig gemacht werden.
Damit lässt der Gesetzentwurf die Chance verstreichen, das deutsche Kündigungsschutzrecht im Einklang mit den Vorgaben des Völker- und Unionsrechts fortzuentwickeln.
Selbst für Beschäftigte in Kleinbetrieben gelten jetzt schon verschiedene Schutzmaßnahmen. Alle EU-Richtlinien, die Diskriminierungen verbieten, beziehen sich auch auf Kündigungen – ohne Einschränkungen im Hinblick auf Kleinbetriebe. Dies gilt auch für Maßregelungskündigungen. Als insoweit letztes Beispiel kann auf Art. 18 der Transparenz-RL verwiesen werden. Zudem verweisen die Erläuterungen zu Art. 30 der GRC auf Art. 24 RESC. Demnach treten dessen Rechtswirkungen vermittelt über EU-Recht mittelfristig ohnehin ein.
Auch besteht nach der Rechtsprechung des EGMR das allgemeine Recht, die Kündigungsgründe zu erfahren, ohne die eine rechtlich sinnvolle Klage gegen eine Kündigung nicht möglich ist (EGMR, 10.7.2012, Nr. 19554/11, K.M.C. / Ungarn, Rn. 31 ff., insbes. Rn. 3).
Letztlich entspricht die Vorschrift weitgehend dem ILO-Übereinkommen 158. Wenn schon im tripartiten ILO-Rechtssetzungsverfahren ein Übereinkommen zustande gekommen ist, sollte es auch national übernommen werden können.
Für eine Ratifizierung des „Kollektiven Beschwerdeprotokolls“ spricht im Gegensatz zum Vorbehalt der Bundesregierung:
Das „Kollektive Beschwerdeprotokoll“ stellt einen wichtigen Meilenstein in der Effektivierung der (R)ESC dar. Dadurch wurde ein gerichtsähnliches Verfahren geschaffen, das der besseren Durchsetzung sozialer Rechte dienen soll. Insbesondere die repräsentativen Gewerkschaften (in Deutschland v.a. der DGB) erhalten dadurch ebenso wie repräsentative Arbeitgeberorganisationen ein eigenständiges Beschwerderecht zur besseren Durchsetzung der Rechte aus der Sozialcharta. Dieses Protokoll ist den schon bisher bestehenden Beschwerdemöglichkeiten bei der ILO nachgebildet (Beschwerden nach Art. 24/5 der ILO-Verfassung; Beschwerden vor dem Ausschuss für Vereinigungsfreiheit), die auch für Deutschland gelten.
Die auf besonders wichtige Probleme ausgerichtete Überprüfungsmöglichkeit durch das „Kollektive Beschwerdeprotokoll“ stellt daher einen zentralen Beitrag zur Effektivierung der sozialen Rechte dar und sollte unbedingt ratifiziert werden.