Deutscher Gewerkschaftsbund

22.04.2020
Für eine öffentliche, solidarische und europäische Gesundheitsstrategie

Gesundheit ist keine Ware!

von Lukas Hochscheidt und Susanne Wixforth (beide DGB)

Die Corona-Krise zeigt: Unsere Gesundheit ist eine politische Angelegenheit. Betrachten wir Krankenhäuser als Unternehmen und Ärzt*innen als Dienstleister? Überlassen wir die Regulierung der Gesundheitssysteme der „unsichtbaren Hand des Marktes“? Diese Fragen gilt es nach der Pandemie mit all ihrer Dringlichkeit zu stellen. Und europäisch zu beantworten.

Arzt hält beschützend seine Hände um eine Weltkugel

DGB/everythingpossible/123rf.com

Ein krankes System

Überlastete Krankenhäuser, fehlende Beatmungsgeräte, Lieferengpässe bei Schutzmasken und zu wenige Test-Kits – in der Corona-Krise bricht ein System zusammen, das in vielen europäischen Ländern schon im Normalbetrieb vor dem Kollaps stand. In Griechenland wurden im Zuge der Troika-Sparpolitik die öffentlichen Gesundheitsausgaben zwischen 2009 und 2016 halbiert. Ergebnis: 13.000 Ärzt*innen und 26.000 weitere Gesundheitsarbeiter*innen wurden aus dem Dienst entlassen, fast die Hälfte der Krankenhäuser musste schließen. In Deutschland hat die Privatisierung der Krankenhäuser dazu geführt, dass nur noch rund 20 % der Kliniken eine gesicherte Investitionsfinanzierung durch öffentliche Mittel vorweisen.

Diese drastischen Einschnitte in einem der sensibelsten Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge rächen sich in der Corona-Krise auf das Bitterste: Zwischen 2004 und 2014 ist die Zahl der Intensiv- und Notfallbetten in der EU um 11% gesunken. In Griechenland kommen auf 100.000 Einwohner*innen nur mehr sechs Intensivbetten. Bedenkt man, wie sehr selbst das mit 12,5 Betten noch etwas besser ausgestattete Italien mit der Lage überfordert ist, wird die Dimension des versorgungstechnischen Notstands in Europa deutlich. 

Gesundheit vom Markt holen

Dass die öffentlichen Gesundheitssysteme in weiten Teilen der EU in einem desolaten Zustand sind, kommt nicht von ungefähr. Die politisch forcierte Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge in Europa hat auch vor der Gesundheitsversorgung nicht Halt gemacht, insbesondere in den von der Troika zu Liberalisierung und Sparpolitik gezwungenen Ländern. Aber auch in den übrigen Mitgliedstaaten zog sich der Staat seit den 2000er Jahren immer mehr aus der Finanzierung der Gemeinschaftsaufgabe Gesundheit zurück. So entstand vielerorts ein unsolidarisches System, in dem private Ausgaben einen immer größeren Teil der Gesundheitskosten abdecken müssen. 2017 machten private Selbstzahlungen in Bulgarien 46,5% der nationalen Gesundheitsausgaben aus, in Zypern 44,6%. In Deutschland rechnet die Bundesärztekammer damit, dass der Anteil der Privatfinanzierung von aktuell 12 % auf bis zu 30 % steigen wird.

Was in diesen liberalisierten Systemen gilt, ist das Gesetz des Marktes – in seiner schlimmsten Form: Gesundheit wird zur Ware, die für jene reserviert ist, die sie sich leisten können. Bei einer globalen Pandemie wie der Corona-Krise ist der fehlende Zugang zu Gesundheitsleistungen jedoch kein persönliches Problem der unmittelbar Betroffenen mehr, sondern ein zivilisatorisches Risiko für die gesamte Gesellschaft. Und selbst wenn eine universelle Notversorgung für alle Bürger*innen politisch versprochen wird, ist das Problem nicht gelöst: Wie soll eine flächendeckende und ausreichende Versorgung im Krisenfall finanziert werden, wenn über Jahre hinweg dringend notwendige Investitionen in öffentliche Strukturen zurückgestellt wurden, während die Gewinne in die Taschen privater Gesundheitsunternehmer*innen gewandert sind?

Sanitäre und wirtschaftliche Krisen werden so zu kommunizierenden Röhren: Der medizinische Notstand führt Volkswirtschaften in eine Rezession, die die Kaufkraft der privaten Haushalte senkt und mit ihr die Liquidität der nationalen Gesundheitsversorgung, da diese in manchen Ländern fast zur Hälfte auf Privatzahlungen beruht. Kollabiert das Gesundheitssystem, so nimmt die Rezession weiter Fahrt auf – ein Teufelskreis. Um solche Krisen zu vermeiden, muss unser Gesundheitssystem grundsätzlich zwei Kriterien genügen: Es muss öffentlich zugänglich sowie solidarisch und solide finanziert sein. Wenn die Corona-Krise ein Gutes haben sollte, dann dass diese Erkenntnis auch die politischen Entscheidungsträger*innen in den Mitgliedstaaten erreicht.

Europäische Antworten für europäische Probleme

Es muss also entschlossen gehandelt werden, um die fehlgeleitete Privatisierung zu beenden. Angesichts der globalen Dimension der Krise und der gravierenden Folgen, die Grenzschließungen und fehlende Solidarität für die Zukunft der EU haben, muss die Antwort eine europäische sein.

Als erstes konkretes Projekt einer gemeinschaftlichen Gesundheitspolitik könnten vorhandene Strukturen besser genutzt werden: Die Europäische Arzneimittelagentur sollte in Kooperation mit dem Europäischen Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten mit der Aufgabe betraut werden, in medizinischen Krisen Versorgungsengpässe zu verhindern: Mithilfe einer neuen Beschaffungskompetenz könnte die EU medizinische Ausrüstung erwerben und diese an Kompetenzzentren in den Mitgliedstaaten – z.B. Apotheken und Krankenhäuser – weiterverteilen. Der globale Überbietungswettbewerb und Hamsterkäufe durch einzelne Mitgliedstaaten, die zu Versorgungsengpässen bei anderen führen, würden somit verhindert.

Eine Gesundheitsstrategie für Europa

Das blinde Vertrauen auf die „unsichtbare Hand des Marktes“, der bisher die alleinige Verteilungskompetenz zugeschrieben wurde, hat aber noch eine andere Fehlentwicklung hervorgebracht: eine strategische medizinische Grundausstattung fehlt in der EU. Die europäische Pharmaindustrie hat sich durch Outsourcing in eine ungesunde Abhängigkeit von Arzneimittelgrundstoffen und Gesundheitsausrüstung aus Drittstaaten gebracht. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, sollte auf europäischer Ebene die Kapitalverkehrsfreiheit bei feindlichen Übernahmen eingeschränkt werden. Bei strategisch wichtigen Unternehmen, wie beispielsweise CureVac, das auf gutem Wege ist, ein Gegenmittel bzw. einen Impfstoff gegen COVID-19 zu entwickeln, sollte rasch eine entsprechende Strategie entwickelt werden, die Investitionen in Forschung und Entwicklung innerhalb der EU hält und fördert.

Der mikroskopisch kleine Sars-CoV-2 Virus zeigt klar auf: Die Europäische Union kann sich einen Ausverkauf der nationalen Gesundheitswesen nicht leisten. Wo die Gesundheit und Sicherheit aller Europäer*innen betroffen ist, müssen die Mitgliedstaaten gemeinsam handeln – denn eine Krise, die Europa als Ganzes betrifft, kann kein Land im Alleingang lösen.


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