Deutscher Gewerkschaftsbund

18.10.2012

60 Jahre Betriebsverfassung: "Mitbestimmung jeden Tag leben"

„Die Idee der Mitbestimmung ist ein wichtiges Stück Demokratisierung der Wirtschaft“, sagte der DGB-Vorsitzende Michael Sommer auf der Festveranstaltung von DGB und Hans-Böckler-Stiftung zum 60. Jubiläum des Betriebsverfassungsgesetzes am 17. Oktober 2012 in Berlin. Auch Arbeitsministerin Ursula von der Leyen würdigte das Gesetz als „eines der prägendsten“ in der Geschichte der Bundesrepublik.

„Die Gewerkschaften wollten damals wesentlich mehr“, erklärte Michael Sommer mit Blick auf die damalige Kritik am 1952 in Kraft getretenen Betriebsverfassungsgesetz. Denn kurz zuvor war 1951 in der Montanindustrie die paritätische Mitbestimmung von Arbeitnehmer- und ArbeitgebervertreterInnen durchgesetzt worden. Das Betriebsverfassungsgesetz sei vielen deshalb nicht weit genug gegangen. „Sie waren enttäuscht, dass die Idee der Gleichberechtigung von Arbeit und Kapital nicht trug“, erklärte Sommer.


Mitbestimmung in Deutschland

1951 wurde für die deutsche Montanindustrie, also im Bergbau sowie der eisen- und stahlerzeugenden Industrie, das Montan-Mitbestimmungsgesetz eingeführt. Das Gesetz, das bis heute Bestand hat, sieht für Unternehmen ab 1000 Beschäftigten einen paritätisch besetzten Aufsichtsrat vor. Das heißt vor allem: Die Arbeitnehmerseite stellt ebenso viele Aufsichtsräte wie die Anteilseigner.

Im Betriebsverfassungsgesetz, das rund ein Jahr später in Kraft trat, war für die übrigen Branchen keine paritätische Mitbestimmung vorgesehen. Die Ausdehnung des Montanmodells auf alle Großunternehmen war den Gewerkschaften in der politischen Auseinandersetzung nicht gelungen. Die ArbeitnehmerInnen erhielten lediglich ein Drittel der Aufsichtsratsmandate. Heute regeln außerhalb der Montanindustrie das sogenannte "1976er-Gesetz"sowie das "Drittelbeteiligungsgesetz" die Unternehmensmitbestimmung über Aufsichtsräte.


Übersicht der Hans-Böckler-Stiftung zu den drei Gesetzen über Aufsichtsräte

Übersicht der Hans-Böckler-Stiftung zur Mitbestimmung in Deutschland

Michael Sommer: Mitbestimmung hilft, Krisen zu verhindern

Heute sei die Idee der betriebliche Mitbestimmung aber „ein wichtiges Element der Sozialen Marktwirtschaft und ein ganz wichtiges Stück Demokratisierung der Wirtschaft geworden“, so Sommer. „Sie gehört zum deutschen Sozialmodell wie die gesetzliche Sozialversicherung oder die Tarifautonomie.“ Gerade in der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise habe das Betriebsverfassungsgesetz seine Stärken bewiesen. „Es hilft, Krisen zu verhindern und Krisen zu bekämpfen“, erklärte der DGB-Vorsitzende.

Michael Sommer betonte aber auch, dass sich das Betriebsverfassungsgesetz immer wieder neuen Fragen und Herausforderungen anpassen müsse. Heute seien das etwa die globalisierte Wirtschaft, der Arbeitnehmerdatenschutz oder die Interessenvertretung von LeiharbeiterInnen und Beschäftigten in Werkverträgen. „Unsere betriebliche Mitbestimmung ist nicht vollkommen, aber sie ist ein lernendes Modell“, so Sommer. „Wir wollen denen danken, die diese Mitbestimmung jeden Tag leben, tragen und machen.“

von der Leyen: Mitbestimmung wird unverzichtbar

Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen sagte in ihrer Festansprache, das Betriebsverfassungsgesetz sei schon bald nach seinem Inkrafttreten zu einem der prägendsten Gesetze der damals noch jungen Bundesrepublik geworden. „Für mich persönlich ist die Mitbestimmung eine der Kardinaltugenden der Sozialen Marktwirtschaft“, erklärte die Arbeitsministerin.

Michael Sommer zu 60 Jahren Betriebsverfassungsgesetz, Rede auf der Festveranstaltung der Hans-Böckler-Stiftung

Die betriebliche Mitbestimmung sorge dafür, dass sowohl die Arbeitnehmer- als auch die Arbeitgeberseite statt Quartalsergebnissen den langfristigen Erfolg des Unternehmens im Blick hätten. „Ich bin fest überzeugt, dass Mitbestimmung gerade nach den Erfahrungen der letzten Jahre unverzichtbar wird. Es liegt an uns, wie weit wir dieses Modell in die Welt hineintragen“, erklärte die Ministerin mit Blick auf die Europäisierung und Internationalisierung von Wirtschaft und Arbeitswelt.

Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen zu 60 Jahren Betriebsverfassungsgesetz, Rede auf der Festveranstaltung der Hans-Böckler-Stiftung

Deutsche Mitbestimmung: Vorbild für Europa

„Zu einer starken Mitbestimmung gehört immer auch ein hoher Organisationsgrad im Betrieb, mit dem man als Betriebsrat argumentieren kann“, machte Willi Segerath, Konzernbetriebsratsvorsitzender der ThyssenKrupp AG, den Zusammenhang von Mitbestimmung und Gewerkschaftsarbeit deutlich. Das deutsche Mitbestimmungsmodell könne außerdem ein Vorbild für den Weg in eine europäische Sozialunion sein, sagte Segerath in einer Diskussionsrunde im Rahmen der Festveranstaltung.

„Die Krise hat gezeigt, wie leistungsfähig unsere Unternehmen durch Mitbestimmung sein können“, erklärte Karsten Tacke, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, in der Diskussion. Er forderte jedoch, Mitbestimmungsprozesse in den Betrieben zu beschleunigen und die Kosten, die den Unternehmen durch die betriebliche Mitbestimmung entstehen, zu verringern.

Hexel: Mehr Mitbestimmung bei Leiharbeit

„Ja, Demokratie kostet Geld“, entgegnete Dietmar Hexel, DGB-Vorstandsmitglied. Aber die Kosten für alle Betriebsratsgremien zusammengerechnet seien „mit Sicherheit nicht höher als alle Boni-Systeme für deutsche Manager“. Durch Mitbestimmung könnten manche Prozesse in Unternehmen tatsächlich etwas länger dauern, „dafür stehen am Ende aber auch viel bessere Ergebnisse“, so Hexel. Mitbestimmung sei zudem ein wichtiges Zukunftsthema. Es gehe beim 60. Jubiläum der Betriebsverfassung auch um die Frage, wie wir in weiteren 60 Jahren leben wollen: „Wollen wir ein demokratisches Wirtschaftssystem oder ein totalitäres?“ Hexel sprach sich außerdem dafür aus, Betriebsräten echte Mitbestimmungsrechte zu geben, wenn es um den Einsatz von LeiharbeiterInnen im Betrieb geht.

Diskussionsrunde mit Dietmar Hexel, DGB-Vorstandsmitglied, zu 60 Jahren Betriebsverfassungsgesetz auf der Festveranstaltung der Hans-Böckler-Stiftung

„Mitbestimmung macht attraktiv“

Diese Mitbestimmung habe er gemeinsam mit dem Betriebsrat in seinem Unternehmen bereits praktiziert, erklärte Andreas Wallmeier, Geschäftsführer von Coppenrath&Wiese. Eine Betriebsvereinbarung begrenzt bei dem Tortenhersteller den Einsatz von Leiharbeitskräften. Wallmeier betonte außerdem die Vorteile, die das Betriebsverfassungsgesetz auch für Unternehmen habe. Als mittelständischer Betrieb müsse Coppenrath&Wiese mit Großkonzernen im Wettbewerb um Fachkräfte „um die besten Köpfe buhlen“. Eine gute Mitbestimmungskultur verschaffe seinem Unternehmen eine gute Reputation und damit einen Vorteil. „Mitbestimmung macht attraktiv“, so Wallmeier. Außerdem habe die betriebliche Mitbestimmung dem Unternehmen geholfen „mit kreativen Lösungen gut durch die Krise zu kommen“.

Auch Waltraud Litzenberger, Konzernbetriebsratsvorsitzende der Deutschen Telekom, lobte die Rolle der Mitbestimmung in der Finanz- und Wirtschaftskrise. Alle seien sich in Krisenzeiten über die positive Wirkung der Betriebsverfassung einig gewesen. „Ich würde mir nur wünschen, dass diese Einstellung die Krise auch überdauert“, so Litzenberger.

Betriebsverfassung weiterentwickeln

In Deutschland fehle es noch an einem klaren politischen Bekenntnis, die Betriebsverfassung an neue Erfordernisse der Arbeitswelt anzupassen, sagte Andrea Kocsis, stellvertretende Vorsitzende der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, zum Abschluss der Festveranstaltung. Seit der letzten Reform im Jahr 2001 habe sich der Arbeitsmarkt massiv gewandelt. Kocsis forderte deshalb, ebenso wie DGB-Vorstandsmitglied Hexel, mehr Mitbestimmungsrechte bei Beschäftigungsformen wie Leiharbeit, Honorar- und Werkverträgen.

Andrea Kocsis, stellvertretende ver.di-Vorsitzende, zu 60 Jahren Betriebsverfassungsgesetz, Rede auf der Festveranstaltung der Hans-Böckler-Stiftung

„Freiwillige Vereinbarungen reichen bei weitem nicht mehr aus“, so Kocsis. Außerdem müssten in der globalisierten Arbeitswelt die Rechte der Betriebsräte bei Unternehmenszusammenschlüssen, Standortverlagerungen oder Outsourcing deutlich gestärkt werden. „Betriebsräte müssen die Chance bekommen, konstruktive Lösungen zu entwickeln und innovative Konzepte zur Beschäftigungssicherung auch durchzusetzen“, forderte Kocsis.


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