In einem gemeinsamen Beitrag im Handelsblatt erklären der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann und Ingo Kramer, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, warum das deutsche Mitbestimmungsmodell eine echte Errungenschaft ist – und warnen vor möglichen negativen Folgen des anstehenden Urteils des Europäischen Gerichtshofs zur Unternehmensmitbestimmung.
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- von Reiner Hoffmann und Ingo Kramer -
Vor kurzem hat der Bundespräsident anlässlich des Festakts des Deutschen Gewerkschaftsbundes zum 40jährigen Inkrafttreten des Mitbestimmungsgesetzes 1976 diese Form der Beteiligung der Arbeitnehmer als „wichtiges Kulturgut“ gewürdigt. Mitbestimmung – sowohl die betriebliche wie auch die Unternehmensmitbestimmung im Aufsichtsrat – prägt die Wirtschafts- und Arbeitsbeziehungen in Deutschland im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft, und sie wird allgemein akzeptiert. Bei allem Streit über ihre konkrete Ausgestaltung ist das eine gesicherte Erkenntnis, auf die man weiter aufbauen kann.
Natürlich gibt es zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, zwischen der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), unterschiedliche Meinungen darüber, wie die Mitbestimmung der Zukunft ausgestaltet sein sollte. Wir bewerten viele Detail-Fragen nicht übereinstimmend. Die Kraft für eine Weiterentwicklung der Mitbestimmung müssen wir aber auf nationaler Ebene finden. Das ist ein ureigenes Anliegen der Bundesrepublik Deutschland. Es gibt in Europa Länder ohne Mitbestimmung auf Unternehmensebene, es gibt Länder mit einem von Deutschland abweichenden Modell der Mitbestimmung, unser Mitbestimmungskonzept findet sich in keinem anderen Mitgliedstaat.
Daher war nicht nur in der Fachwelt und juristischen Literatur die Überraschung groß, als das Kammergericht Berlin im Herbst vergangenen Jahres dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorgelegt hat, ob unser Mitbestimmungsrecht gegen höherrangiges EU-Recht verstößt. Konkret geht es um den Vorwurf, Mitbestimmung diskriminiere wegen der Staatsangehörigkeit und schränke die Arbeitnehmerfreizügigkeit ein. Diesen Vorwurf halten wir für falsch.
Gesetzlich steht das Recht, Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat des deutschen Unternehmens zu bestimmen, im Regelfall nur den Arbeitnehmern zu, die auch in Deutschland beschäftigt werden. Das gilt allerdings – schon immer – unabhängig von deren Staatsangehörigkeit. Es ist also völlig egal, ob es sich zum Beispiel um den deutschen Facharbeiter am Montageband, die türkische Entwicklungsingenieurin, die türkische Buchhalterin oder den französischen Abteilungsleiter handelt. Alle dürfen in derselben diskriminierungsfreien Weise im Fall ihrer Beschäftigung in Deutschland die Arbeitnehmervertreter im deutschen Aufsichtsrat mitwählen.
Richtig ist ebenso: Wird der deutsche Facharbeiter an einem Montageband in Frankreich beschäftigt, hat er regelmäßig kein Wahlrecht für einen Aufsichtsrat in Deutschland. Ebenso wie der französische Abteilungsleiter, der in der französischen Tochter eines deutschen Konzerns arbeitet. Für diese Arbeitnehmer gilt auch nicht deutsches Kündigungsschutzrecht, sondern ihr Arbeitsverhältnis richtet sich nach dem französischen Recht. Die Wahlberechtigung leitet sich also aus dem Beschäftigungsort ab, nicht aus der Staatsangehörigkeit. Eine Diskriminierung ist mit einer solchen Regelung niemals verbunden.
Überhaupt nicht nachvollziehbar ist für uns der Vorwurf, die Mitbestimmung schränke die Arbeitnehmerfreizügigkeit ein. Man stelle sich vor, der bislang im Inland tätige Mitarbeiter eines deutschen Unternehmens bekommt einen Arbeitsplatz an einem Standort in Frankreich angeboten – zu veränderten und aus seiner Sicht besseren Konditionen und mit spannenden neuen Perspektiven. Er wird hier vieles abwägen: Kann man der Familie den Umzug zumuten, was passiert mit den Kindern, was mit dem Partner, kommen die Eltern weiter allein zurecht, welche Schulen sollte man sich ansehen – all das sind wichtige individuelle Überlegungen. Die erste Frage des Mitarbeiters ist aber sicher nicht, ob er dann noch die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat mitwählen kann. Das ist realitätsfremd. Wer so etwas vorträgt, ist fern jeder Praxis in Unternehmen – sei es aus Sicht des Arbeitgebers, sei es aus Sicht des Arbeitnehmers.
Wir hoffen daher, dass der Europäische Gerichtshof den Vorstoß zur Ausdehnung und Ausweitung des Wahlrechts zurückweist. Das ist nicht nur ein juristisches Gebot. Es ist auch ein Gebot politischer Vernunft, Zurückhaltung zu üben. Den 27 anderen Mitgliedsländern der EU das Rechtssystem des 28. überzustülpen wird zu weiterem Unverständnis führen. Das entspricht auch nicht der Logik der Verträge und der bisherigen europäischen Strukturen.
Wer eine europäische Lösung will, kann sie auf europäischer Ebene finden, hier steht zum Beispiel das Recht der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) zur Verfügung. Das wäre der richtige Weg, um eine einheitliche Rechtsgrundlage zu schaffen. Die gesetzlich erzwungene Einbeziehung der Arbeitnehmer in die deutsche Mitbestimmung ist rechtlich nicht vertretbar und auch sachlich nicht gerechtfertigt.
Erschienen im Handelsblatt vom 26. September 2016
Die Autoren
DGB/Christoph Michaelis
Reiner Hoffmann ist seit 2014 Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).
BDA | Chaperon
Ingo Kramer ist seit 2013 Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA).