Auf insgesamt rund 123 Milliarden Euro beziffert der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) den Schaden, der durch Tarifflucht und Lohndumping der Arbeitgeber hierzulande entsteht. Sozialversicherungen und Fiskus entgehen Milliarden Euro, ebenso wird die Kaufkraft in erheblichem Ausmaß geschmälert. Das belegen neue Berechnungen des DGB auf Basis von Daten des Statistischen Bundesamtes.
Den Sozialversicherungen in Deutschland entgehen demnach jährlich rund 41 Milliarden Euro an Beiträgen. Bund, Länder und Kommunen nehmen aus demselben Grund circa 24 Milliarden Euro weniger Einkommensteuer ein. Die mangelnde Tarifbindung wirkt sich darüber hinaus unmittelbar auf die Kaufkraft der arbeitenden Bevölkerung aus: Mit einer flächendeckenden Tarifbindung hätten die Beschäftigten insgesamt rund 58 Milliarden Euro mehr pro Jahr im Portemonnaie.
Betrachtet über ganz Deutschland und über alle Branchen hinweg bedeutet das unter dem Strich, dass Beschäftigte, die keinen Tarifvertrag haben, jährlich 2.891 Euro netto weniger haben als Tarifbeschäftigte.
Stefan Körzell, DGB-Vorstandsmitglied:
"Tarifverträge sind nicht nur ein Instrument für faire Löhne, sondern auch eine gesamtgesellschaftliche Investition in Stabilität und soziale Sicherheit. Tarifflucht betrifft uns alle: Tarifverträge garantieren nicht nur höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten und mehr Urlaub, sondern ermöglichen Beschäftigten auch, ihre Arbeitsbedingungen aktiv mitzugestalten.
Eine hohe Tarifbindung ist kein Hemmschuh, sondern Motor für wirtschaftliches Wachstum – sie stärkt die Binnennachfrage und sichert gute, nachhaltige Arbeit.
Bei den vom Bund in den nächsten Jahren vorgesehenen Milliardeninvestitionen ist es wichtig, dass diese Aufträge an Unternehmen gehen, die ihre Beschäftigten fair nach Tarif bezahlen. Der Staat ist mächtiger Einkäufer – und damit trägt er Verantwortung für einen fairen Wettbewerb, der nicht auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen wird. Gelder der öffentlichen Hand dürfen nicht länger Lohndumping subventionieren. Mit einem starken Bundestariftreuegesetz gehen öffentliche Aufträge nur noch an Unternehmen, die nach Tarif zahlen.
Das vom Bundeskabinett beschlossene Bundestariftreuegesetz muss deshalb schnell vom Bundestag beschlossen werden. Für ein wirksames, starkes Gesetz fordern wir Nachbesserungen: Unverständlich ist, dass die Tariftreuepflicht nicht für Aufträge von Sicherheitsbehörden gelten soll. Auch der jetzt vorgesehene Schwellenwert, nach dem das Gesetz nur bei Aufträgen ab 50.000 Euro greift, ist zu hoch angesetzt. Im Schnitt würden damit bereits heute über ein Viertel der jährlich gut 22.000 vom Bund vergebenen Aufträge nicht unter die Tariftreuebestimmungen fallen.
Außerdem ist die Bundesregierung durch die EU-Mindestlohnrichtlinie verpflichtet, bis Ende des Jahres einen nationalen Aktionsplan für mehr Tarifverträge vorzulegen: Bei Aufspaltung oder Abspaltung von Unternehmen müssen bestehende Tarifverträge bis zu einer neuen Vereinbarung fortgelten. Zudem muss es leichter werden, Tarifverträge für alle Unternehmen einer Branche allgemeinverbindlich zu erklären.“
Alle Hintergründe und Infos:
DGB‑Positionspapier für einen nationalen Aktionsplan für mehr Tarifverträge
Beispiel Adidas: Ausstieg aus der Tarifbindung mitten im Spiel
Mitten in den laufenden Tarifverhandlungen pfeift Adidas das Spiel ab. Der Sportartikelhersteller ist zum 1. September aus der Tarifbindung ausgestiegen – ein Schritt, den die IGBCE als „grob unsportlich" kritisiert. 8.000 Beschäftigte deutschlandweit schauen jetzt in die Röhre, während ihr Arbeitgeber die rote Karte für faire Sozialpartnerschaft zieht.
"Mit dem Austritt aus der Tarifgemeinschaft verlässt Adidas den Pfad von Sozialpartnerschaft und Fairplay", kritisiert die stellvertretende IGBCE-Vorsitzende Birgit Biermann. Das bedeutet konkret: Ab dem 1. September gelten für die 8.000 Konzernbeschäftigten keine neuen Tarifabschlüsse mehr. Für alle neu eingestellten Mitarbeiter*innen fallen Tarifverträge komplett weg. Das Unternehmen, das sonst gerne mit Fairplay wirbt, will plötzlich nicht mehr nach den Regeln spielen.
Die Beschäftigten sind massiv verunsichert. Sie fürchten, dass ihre hart erkämpften tariflichen Standards auf der Strecke bleiben. "Dieser Schritt ist nicht nur grob unsportlich und unsolidarisch dem eigenen Team gegenüber, Adidas schadet sich damit auch selbst", so Biermann. Die IG BCE warnt, dass nicht nur Fachkräfte, sondern Beschäftigte an allen Ecken und Enden fehlen werden. Denn Unternehmen ohne Tarifbindung erfüllen meist nur noch die gesetzlichen Mindestanforderungen.
Die 8.000 Adidas-Beschäftigten arbeiten hauptsächlich in der Herzogenauracher Zentrale, in den Logistikzentren Bayern und Niedersachsen sowie den Adidas-Stores.
Der Konzern begründet den Austritt mit der aktuellen IGBCE-Tarifforderung: 7 Prozent Entgelterhöhung, mehr Entgeltgruppen in Tarifbindung, gerechte Eingruppierungen und einen spürbaren Vorteil für Gewerkschaftsmitglieder. Dagegen wehrt sich Adidas vehement.
"Es ist kompletter Unsinn zu behaupten, die von der IGBCE geforderte Ausweitung des Tarifvertrags auf höhere Entgeltgruppen würde den bislang außertariflich Beschäftigten erhebliche Nachteile bringen", stellt Biermann klar. Das Gegenteil sei der Fall: "Ihre Arbeitszeit wäre sauber geregelt, Überstunden müssten auch bezahlt werden, Entgeltstrukturen würden transparenter."
Das passt Adidas nicht ins Konzept. Statt zu verhandeln, verlässt der Konzern das Spielfeld. Ein Eigentor für die Sozialpartnerschaft.