Unter dem Eindruck der handelspolitischen Konflikte und drohender wirtschaftlicher Stagnation hat die Europäische Kommission den Binnenmarkt wiederentdeckt. Das Ziel ist richtig, wir brauchen einen integrierten Binnenmarkt, denn wir werden die Herausforderungen der Zukunft, allen voran den Klimawandel, nur in enger Kooperation mit den anderen EU-Mitgliedstaaten meistern. Der Weg, den die EU-Kommission einschlägt, ist allerdings fehlgeleitet. Die Binnenmarktstrategie, die letzte Woche vorgelegt wurde, reiht sich ein in ein ganzes Paket von Maßnahmen, das einseitig auf Deregulierung setzt.
Der 1. Schritt wurde mit dem Omnibus-Paket I gemacht. Dieses enthält eine weitreichende Verwässerung der Richtlinien zu menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten in der Lieferkette und zur Nachhaltigkeitsberichterstattung. Dabei geht es der Kommission mitnichten darum, komplizierte Regelungen zu vereinfachen. Es ist vielmehr ein Frontalangriff auf politisch bereits beschlossene soziale und ökologische Schutzstandards, der mittelfristig auch für Unternehmen, für die Finanzstabilität und für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft schädlich ist (DGB 2025).
Wenn Unternehmen keinen Anreiz mehr haben, den Übergang zu einer zukunftsfähigen, klimafreundlichen Wirtschaft einzuschlagen, werden sie weiterhin veraltete Technologien oder Produkte verkaufen, die auch unter schlechten Arbeitsbedingungen produziert wurden. Sie werden kurzfristigen Gewinnen den Vorrang geben, anstatt in nachhaltige Modernisierung zu investieren. Sogar die Finanzaufsicht warnt mittlerweile vor einem zu weitgehenden Regelabbau. In einer aktuellen Stellungnahme unterstreicht die Europäische Zentralbank: Weil mit dem Omnibus-Paket I Berichtspflichten wegfallen, herrsche bald ein Datenmangel, der die Finanzstabilität gefährde, weil Klimarisiken von den Unternehmen und Finanzdienstleistern nicht angemessen berücksichtigt werden können.
In einem 2. Schritt attackiert die EU-Kommission mit der Binnenmarktstrategie jetzt nationale Schutzstandards und schlägt eine weitgehende Liberalisierung des Dienstleistungssektors vor. Zukünftig will die EU-Kommission nationale Gesetze vor ihrer Verabschiedung auf Verhältnismäßigkeit prüfen. Der vorgeschlagene Single Market Barriers Prevention Act liest sich wie eine Wiederbelebung der Notifizierungsrichtlinie, die von den Gewerkschaften vor Jahren bekämpft wurde. Zudem kritisiert die EU-Kommission das so genannte gold-plating, also die angebliche Übererfüllung europäischer Richtlinien in der nationalen Umsetzung. Richtig ist: Höhere Standards auf nationaler Ebene als die auf EU-Ebene vereinbarten Mindeststandards, sind ein legitimes Ziel für jeden Mitgliedstaat, der den Wohlstand seiner Bevölkerung mehren will.
Hinter diesen Politikvorschlägen verbirgt sich ein grundsätzlich problematisches Verständnis von der Rolle des Staates in der Transformation: Wer Gesetze und Regeln nur als Kostenfaktor für Unternehmen sieht, verkennt den Nutzen, den sie für die eine nachhaltige Ausrichtung der Wirtschaft haben. Ist innovatives und nachhaltiges Wachstum das Ziel, besteht die Aufgabe des Staates nicht nur darin, die Märkte zu korrigieren, sondern sie zu gestalten. Gute Regulierung kann Innovation und Fortschritt fördern. Mit dem Omnibus-Paket und der Binnenmarktstrategie macht die EU-Kommission das Gegenteil.