Herbst der Wirtschaftsreformen statt Sozialabbau

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Der IGBCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis warnt vor der dramatischen Lage in energieintensiven Branchen: Arbeitsplätze stehen auf der Kippe, Werksschließungen drohen. Statt über längere Arbeitszeiten zu diskutieren, muss die Politik die Weichen für den industriellen Turnaround stellen.

Vor einigen Monaten stellte uns die Bundesregierung in Aussicht, ihr Wirken werde schon in diesem Sommer erste Anzeichen einer wirtschaftlichen Besserung bringen. Nun, im Herbst, zeigt sich: Diese Hoffnung hat sich zerschlagen.

In den – meist energieintensiven – Branchen der IGBCE mit ihren 1,1 Millionen Kolleginnen und Kollegen ist die Lage dramatisch. Ob Chemie, Kunststoffe, Gummiwaren, Glas oder Papier: überall Rückgänge. Unsere Industrien haben ein Produktionsniveau erreicht, das 20 Prozent unter dem von vor dreieinhalb Jahren liegt, als Putin den Krieg mit der Ukraine begann. Unser IGBCE-internes Krisenbarometer, mit dem wir Personalabbauprojekte und Kurzarbeit in unseren Branchen messen, zeigt auf Sturm. Bundesweit stehen mehr als 40.000 Arbeitsplätze im Feuer. 200 der Abbauprojekte sind Anlagen- oder Werksschließungen – vom Chemie-Cracker bis zur 500 Jahre alten Papierfabrik. Industrielle Wertschöpfung, die ein für alle Mal verloren ist.

Die Folgen für die Betroffenen halten wir als IGBCE in der Regel in Grenzen. Niemand fällt ins Bergfreie! Das ist und bleibt unsere Losung! Aber der Verlust schadet der Volkswirtschaft und dem gesellschaftlichen Wohlstand nachhaltig. Zumal eine Schließung nicht selten weitere nach sich zieht. Unsere Branchen sind meist zentral für alle anderen im Produktionsverbund. Entfällt ein wichtiges Glied in der Prozesskette, wird es für die anderen Betriebe sehr schnell eng. Unsere Wahrnehmung ist: Die Bundesregierung ist sich dessen bewusst. Das zeigt ihr klarer Fokus auf Investitionen und Investitionsförderung. Gleichzeitig will sie Deutschlands größten Standortnachteil lindern – die hohen Energiekosten. Nur: Von den Maßnahmen, die nötig sind, um wieder auf Augenhöhe mit anderen Industrienationen zu kommen, hat sie bislang zu wenige umgesetzt.

Dabei gibt es wirtschafts-, industrie- und klimapolitisch eine Menge zu tun. Wenn sich die Rahmenbedingungen nicht schleunigst bessern, wird sich das Tempo der Stilllegungen und Verlagerungen noch erhöhen. Daher kann ich den jüngsten Äußerungen des Bundeskanzlers nur zustimmen: Auch wir sind mit dem, was die Bundesregierung bislang geschafft hat, nicht zufrieden. Nur: Wir scheinen unterschiedliche Dinge zu meinen. Jedenfalls irritiert uns die Prioritätensetzung des Kanzlers. Offenbar will er sich mit Verve in den Sozialabbau stürzen – mit dem Hinweis, dass der Sozialstaat mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar sei. Wenn die Politik nach drei Jahren Stagnation nicht endlich die Grundlagen für neues Wachstum und industriellen Turnaround schafft, werden wir volkswirtschaftlich immer weniger leisten. Hier muss die Bundesregierung zuerst ansetzen. Argumente aus dem späten 20. Jahrhundert werden den heutigen Herausforderungen nicht gerecht. Unseren Kolleginnen und Kollegen fehlt jegliches Verständnis dafür, dass sie sich um ihre Arbeitsplätze sorgen und gleichzeitig Debatten um 12-Stunden-Arbeitstage oder Rente mit 70 ertragen müssen. Sie haben in der Vergangenheit zu oft erlebt, dass Politik ihnen etwas abfordert, aber selbst nicht geliefert hat.

Dieser “Herbst der Reformen”, muss ein Herbst der Wirtschafts- und Standortreformen sein! Es gilt jetzt, das Richtige zu tun! “Das Richtige tun” ist übrigens auch das Motto unseres 8. Ordentlichen Gewerkschaftskongresses im Oktober. Einige Forderungen und Positionen, die ich hier skizziert habe, werden wir in Hannover diskutieren und vertiefen. Der Bundeskanzler kann sich bei seinem Kongressbesuch ein ungeschminktes Bild machen von der Stimmungslage der Beschäftigten. Die Kolleginnen und Kollegen kennen die Herausforderungen, vor die der demografische Trend die Sozialsysteme stellt. Die andere Seite der Medaille ist aber, dass sich ihre Arbeit immer mehr verdichtet hat, körperliche und psychische Belastungen gestiegen sind. Aus unserer jüngsten Mitgliederumfrage wissen wir: Zwei von drei Beschäftigten glauben nicht, dass sie es im aktuellen Job bis zum regulären Renteneintritt schaffen. In der Produktion sind es sogar 80 Prozent. Das muss man doch in die Renten-Überlegungen einbeziehen!

Es braucht endlich Reformen, die das System als Ganzes begreifen und nachhaltig stärken. Die Lösungen dürfen nicht immer neue Zumutungen sein. Wir haben als Tarifpartner bewiesen, dass das geht – mit unseren tariflich abgesicherten Pensionsfonds oder der ersten arbeitgeberfinanzierten Pflegezusatzversicherung per Tarifabschluss. Innovationen, auf denen man aufbauen kann. Wir brauchen mehr Kreativität in der Industrie- und Sozialpolitik. Die kommenden Jahre werden für das Land insgesamt und gute Arbeitsplätze in der Industrie keine einfachen Jahre. Wir als IGBCE sind darauf vorbereitet.


Michael Vassiliadis ist seit 2009 Vorsitzender der IGBCE und ist für eine weitere Amtszeit nominiert. Der Gewerkschaftskongress findet vom 19. bis 24. Oktober statt.

 

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