Der gesetzliche Mindestlohn ist in aller Munde. Im kommenden Monat wird die Mindestlohnkommission einen Beschluss über die Höhe der Lohnuntergrenze für die beiden folgenden Jahre fassen. Schon jetzt warnen Arbeitgeberverbände in schrillen Tönen vor einem angeblich unangemessenen Anstieg auf 15 Euro: Ein höherer Mindestlohn überfordere die Unternehmen in der aktuellen wirtschaftlichen Lage, setze falsche Anreize und führe zu Wettbewerbsverzerrungen. Dieses Wehklagen ist eine alte Leier. Egal, ob über 8,50 Euro, 12 Euro oder 15 Euro diskutiert wird – die Arbeitgeber sehen stets den Weltuntergang nahe.
Dabei ist klar: Löhne unterhalb von 60 Prozent des mittleren Lohns von Vollzeitbeschäftigten (in Deutschland aktuell knapp unter 15 Euro pro Stunde) gelten als Armutslöhne. Der Richtwert von 15 Euro ist nicht wahllos aus der Luft gegriffen, sondern beruht auf international anerkannten Kriterien für die Angemessenheit von Löhnen. Das heißt: Wer diesen Betrag nicht bekommt, kann mit seiner Arbeit kaum seine Miete, Kosten für Energie oder den täglichen Einkauf finanzieren. Viele Beschäftigte müssen deshalb ergänzend staatliche Leistungen in Anspruch nehmen.
Es ist weder fair noch angemessen, wenn Beschäftigte jetzt ihren Gürtel noch enger schnallen sollen, um die Auswirkungen der wirtschaftlichen Krise auszugleichen. Die wirtschaftliche Schwäche hierzulande fußt vorrangig auf einer falschen Wirtschaftspolitik, Managementfehlern, einem jahrzehntelangen Investitionsstau sowie externen Faktoren (nicht zuletzt aufgrund des russischen Angriffs auf die Ukraine und des US-amerikanischen Zollkriegs). Es gibt keinen Grund dafür, dass die Beschäftigten das mit Lohnverzicht bezahlen sollen. Bereits mit der letzten Mindestlohnanpassung aus dem Jahr 2023, die gegen die Stimmen der Gewerkschaftsseite in der Mindestlohnkommission von der Arbeitgeberseite durchgesetzt wurde, mussten sechs Millionen Menschen, die zum Mindestlohn arbeiten, reale Einkommensverluste hinnehmen.
Höhere Löhne haben sogar positive Effekte für die Gesamtwirtschaft: Mehr Einkommen steigert die Kaufkraft und belebt den Konsum. Jeder zusätzliche Euro, den Beschäftigte ausgeben, führt unmittelbar zu höherer Nachfrage und stärkt den Binnenmarkt. Wer mehr in der Tasche hat, gibt auch mehr aus. Das ist umso wichtiger, wenn die Nachfrage aus dem Ausland zurückgeht.
Ein flächendeckender Mindestlohn verhindert zudem Lohndrückerei und schafft faire Wettbewerbsbedingungen. Wenn alle Arbeitgeber mit denselben Personalkosten kalkulieren müssen, findet der Wettbewerb über Qualität, Service und Innovation statt – nicht über niedrigste Löhne.
Außerdem herrscht in vielen Bereichen der Wirtschaft, in denen Mindestlohn bezahlt wird, seit langem Arbeitskräftemangel: In der Gastronomie, zum Teil im Einzelhandel und der Landwirtschaft (siehe Abbildung). Wer faire Löhne zahlt, schafft Motivation, senkt Fehlzeiten und bindet qualifiziertes Personal langfristig an seinen Betrieb.
Dennoch bleibt der Mindestlohn lediglich eine untere Haltelinie. Gute Löhne und faire Arbeitsbedingungen gibt es nur mit Tarifverträgen. Deshalb braucht es wirksame Maßnahmen zur Stärkung der Tarifbindung. Die im Koalitionsvertrag vereinbarten Instrumente, wie das Bundestariftreuegesetz, der verbesserte Zugang der Gewerkschaften in Betriebe sowie die verbesserte steuerliche Absetzbarkeit von Gewerkschaftsbeiträgen, müssen nun zügig und wirksam umgesetzt werden.