Wirtschaftskriminalität: Wir verlieren jährlich etwa 100 Milliarden Euro

Datum

Dachzeile einblick-Interview mit Anne Brorhilker

Anne Brorhilker war bis 2024 Oberstaatsanwältin in Köln und leitet die CumEx-Ermittlung, durch die ein milliardenschwerer Finanzbetrug verfolgt und geahndet wurde. Als Vize-Geschäftsführerin der Bürgerbewegung Finanzwende setzt sie sich nun für einen harten Kurs gegen Finanzkriminelle ein. Im einblick-Interview fordert sie deutlich mehr Ressourcen für Strafverfolgung und Justiz.

einblick | Liebe Frau Brorhilker, Sie haben kürzlich nach vielen Jahren Ihren Dienst als Staatsanwältin quittiert, um sich auf Seiten der Zivilgesellschaft gegen Finanzkriminalität zu engagieren. Was hat Sie zu diesem Schritt bewogen?

Anne Brorhilker | Ich war immer sehr gerne Staatsanwältin, aber zunehmend unzufrieden damit, wie schwach in Deutschland Finanzkriminalität verfolgt wird. Täter mit den besten Anwälten konnten sich zu oft “freikaufen”, während die Justiz aus Mangel an Ressourcen einknickte. Das verletzt den Grundsatz, dass alle vor dem Gesetz gleich sind. Als Staatsanwältin durfte ich solche Missstände nicht öffentlich ansprechen. Jetzt bei Finanzwende kann ich Debatten anstoßen, strukturelle Probleme sichtbar machen und gemeinsam mit Bürger*innen Druck aufbauen, damit die nötigen Veränderungen angestoßen werden und Wirtschaftskriminalität endlich wirksam bekämpft wird.

Der CumEx-Skandal gilt als der größte Steuerbetrug in der deutschen Geschichte. Wie genau ist das abgelaufen?

CumEx ist kein gewöhnlicher Aktienhandel, sondern ein sogenannter Tax Trade, bei dem der Profit allein aus Steuerschäden stammt. CumEx zielt darauf ab, sich Steuern erstatten zu lassen, obwohl diese zuvor gar nicht abgeführt wurden, teilweise auch mehrfach. Entgegen manch einer Berichterstattung handelte es sich dabei nicht um eine Gesetzeslücke, die von cleveren Akteuren ausgenutzt wurde. Die Täter haben sich über geltendes Recht hinweggesetzt. Das haben mittlerweile verschiedene Gerichte bestätigt und viele Täter zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. 

Rund 1.800 Verdächtige sind im Nachgang durch Ihre Ermittlungen aufgedeckt worden. Aus welchen Milieus und mit welchen Motiven haben sich diese Menschen an Cum-Ex beteiligt? Gibt es verbindende Wesensmerkmale?

Die Täter waren – wie es für Wirtschaftskriminelle typisch ist - vor allem eins: auffällig unauffällig. Zudem ganz überwiegend männlich, hochgebildet, erfahren und finanziell gut situiert. Klassische “White Collar”-Täter, die sich selbst nicht als Kriminelle wahrnehmen, sondern als “smarte Geschäftsmänner”. Von Einsicht keine Spur. Stattdessen haben sie nach ihrer Entdeckung meist anderen die Schuld gegeben, die Opferrolle eingenommen und sich entsprechend in den Medien inszeniert. Da war dann plötzlich von Verschwörungstheorien oder politisch motivierten Verfahren die Rede. Solche hoch emotionalen Reaktionen sind ebenfalls typisch für Wirtschaftskriminelle. 

Auf Grund dieser Erfahrungen: Was muss sich in der Politik, aber auch in der Strafverfolgung ändern, um solchen Skandalen vorzubeugen?

Unsere behördlichen Strukturen sind zu schwach, um effektiv gegen organisierte Finanzkriminalität vorzugehen. Wir brauchen spezialisierte, gut ausgestattete Ermittlungsbehörden, eine einheitliche IT-Infrastruktur und politischen Rückhalt. Bei Wirtschaftskriminalität sind die Anreize für Täter hoch, meist geht es um sehr hohe Profite. Das Entdeckungsrisiko ist wiederum gering. Will man solchen Skandalen vorbeugen, muss man gezielt die Wahrscheinlichkeit einer Aufdeckung erhöhen, also die Behörden leistungsstärker machen. Es geht dabei um mehr als “nur” Milliardenverluste für uns alle: Wenn mächtige Täter ungeschoren davonkommen, während kleine Steuerdelikte hart verfolgt werden, kann das Vertrauen in den Rechtsstaat Schaden nehmen.

Wie bewerten Sie die Rolle der Medien bei der Aufklärung von Finanzkriminalität? Ist CumEx medial zu komplex und deshalb nur schwer vermittelbar?

Ohne investigative Journalist*innen wäre über Skandale wie CumEx oder Wirecard wahrscheinlich nie öffentlich berichtet worden. Ihre Arbeit ist unverzichtbar für Demokratie und Aufklärung. Zugleich dürfen sich die übrigen Medien nicht von der vermeintlichen Komplexität solcher Finanzskandale abschrecken lassen. Die Finanzlobby selbst wird nämlich nicht müde, mit dem Hinweis “Das ist alles wahnsinnig kompliziert” kritische Nachfragen abzuwehren. Beim Dieselskandal hat schließlich auch niemand verlangt, jedes technische Detail zu verstehen, um Unrecht zu erkennen. 

Sie haben die mangelnde personelle und technische Ausstattung der Behörden im Kampf gegen Finanzkriminalität kritisiert. Welche konkreten Ressourcen fehlen und wie wirkt sich das auf die Ermittlungsarbeit aus?

Justiz, Polizei und Finanzverwaltung sind im operativen Bereich chronisch unterbesetzt, genau dort, wo die eigentliche Arbeit stattfindet. Häufige Personalrotation verhindert außerdem den Aufbau von Fachexpertise, obwohl gerade komplexe Wirtschaftskriminalität spezialisiertes Wissen erfordert. Die technische Ausstattung ist veraltet, die Digitalisierung unzureichend und die IT-Systeme der Behörden zersplittert: Unterschiedliche Datenschutzvorgaben führen zu inkompatiblen Systemen, Kommunikation und Wissensaustausch zwischen Behörden funktioniert kaum. 

Auf der Gegenseite stehen Wirtschaftskriminelle, die finanziell gut ausgestattet sind, große Anwaltsteams einsetzen und zunehmend auch Medienkampagnen fahren, um Prozesse zu beeinflussen. Treffen diese massiven Maßnahmen auf eine schwache Justiz und Verwaltung, endet dies oft damit, dass komplexe Verfahren mit gravierenden Schadenssummen vorschnell gegen geringe Geldbußen eingestellt werden. 

Inwieweit behindern politische Entscheidungen oder fehlender politischer Wille die effektive Bekämpfung von Steuerbetrug und Finanzkriminalität?

Angesichts eines geschätzten jährlichen Schadens von rund 100 Milliarden Euro ist das geringe politische Interesse an effektiver Verfolgung von Wirtschaftskriminalität nur schwer zu verstehen. So ist etwa die Zahl der Betriebsprüfungen in deutschen Unternehmen in den letzten 10 Jahren um über die Hälfte gesunken. Und auch die Anzahl der Betriebsprüfer*innen ist rückläufig. Wenn aber erst gar nicht geprüft wird, kann auch nichts entdeckt werden. Hier muss dringend ein Umdenken stattfinden und die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. 

Die Finanzlobby ist bekannt für ihren erheblichen Einfluss. Welche Strategien und Methoden nutzen Lobbyisten, um Gesetzgebung und öffentliche Meinung zu beeinflussen?

Die Finanzlobby – also Banken, Fonds, Versicherungen und ihre Verbände – ist hervorragend vernetzt und verfügt über enorme Ressourcen. Laut Lobbyregister gehörten 2024 10 der 100 finanzstärksten Einträge zu diesen Akteuren. Ihr Budget lag bei fast 40 Millionen Euro, mehr als das von Auto- und Chemielobby zusammen. Rund 440 Lobbyist*innen beeinflussen allein in Berlin Politik und Öffentlichkeit. Dabei setzen sie gezielt auf strategische (Rechts-)Kommunikation und irreführende Narrative. So wurde im Fall CumEx die angebliche “Komplexität” bewusst genutzt, um Nachfragen abzuwürgen, während das Narrativ der “Gesetzeslücke” den Eindruck erweckte, der Staat trage selbst die Schuld an den fehlenden Steuermilliarden. Diese Darstellung wirkt bis heute nach – viele Politiker und Journalistinnen suchen die Lösung weiterhin in “besseren Gesetzen”, statt zu erkennen, dass Wirtschaftskriminalität nur eingedämmt werden kann, wenn die Behörden deutlich stärker ausgestattet werden.

Sie sind nun Teil der “Bürgerbewegung Finanzwende”. Welche Ziele verfolgen Sie damit? 

Ich leite bei der Bürgerbewegung Finanzwende den Bereich Finanzkriminalität und verfolge gemeinsam mit meinem Team vor allem die Ziele, die Justiz deutschlandweit besser für den Kampf gegen Finanzkriminalität aufzustellen, die Finanzlobby im Justizbereich zurückzudrängen und dafür zu sorgen, dass Steuerbetrug in Millionenhöhe nicht sanfter behandelt wird als Sozialbetrug.

Der DGB fordert seit langem mehr Steuergerechtigkeit. Welche konkreten Gesetzesänderungen wären aus Ihrer Sicht notwendig, um Steuerbetrug wirksamer zu bekämpfen?

Eine wirksame Reform wäre die Wiedereinführung eines Verbrechenstatbestands für besonders schwere Fälle der Steuerhinterziehung. Bei gravierendem Betrug – einem rechtlich ähnlichen Delikt – greift ein solcher Tatbestand bereits und verhindert etwa Verfahrenseinstellungen gegen Geldauflagen. Für Steuerhinterziehung fehlt dies derzeit, obwohl die verursachten Schäden meist deutlich höher sind. Dass es in der Praxis häufig zu “schnellen Deals” kommt, wenn die Ressourcen zwischen Behörden und Wirtschaftskriminellen ungleich verteilt sind, ist im Einzelfall menschlich nachvollziehbar. Doch genau das nährt den Eindruck, der Rechtsstaat messe mit zweierlei Maß und behandle Steuerhinterzieher milder als etwa (Sozial-)Betrüger.

Außerdem halte ich für den Bereich der international organisierten Steuerhinterziehung und Geldwäsche eine Zentralstelle auf Bundesebene für wichtig, um Fortschritte bei Entdeckung und Ahndung grenzüberschreitender, hochprofessionell durchgeführter Wirtschaftskriminalität zu erreichen. Steuerhinterziehung und Geldwäsche hängen in der Praxis eng zusammen und gerade der Bereich der international organisierten Kriminalität, bei denen die Akteure überwiegend aus dem Ausland heraus tätig werden, ist bei einer Bundesstelle besser aufgehoben als bei den verstreuten und untereinander schlecht vernetzten Landesbehörden. 

Was entgegnen Sie denjenigen, die behaupten, komplexe Steuergestaltungen seien legal und legitim?

Selbstverständlich kann es komplexe Steuergestaltungen geben, die steuerrechtlich zulässig und legal sind. Das hängt im Einzelfall davon ab, ob die geltenden rechtlichen Vorgaben eingehalten wurden oder nicht. Unklarheiten lassen sich im Vorhinein durch eine sog. verbindliche Auskunft der Steuerbehörden klären. Bei CumEx hat übrigens keiner von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, offenbar um nur ja keine schlafenden Hunde zu wecken. Außerdem wurden die Behörden bei CumEx systematisch über wichtige Aspekte der Geschäfte getäuscht bzw. im Unklaren gelassen – und damit war die Schwelle zur strafrechtlichen Steuerhinterziehung überschritten. Hätten die Akteure ihre Karten offen auf den Tisch gelegt, hätte der Streit nur vor den Finanzgerichten stattgefunden und nicht vor den Strafgerichten.


Zur Person: Anne Brorhilker war bis 2024 Oberstaatsanwältin bei der Staatsanwaltschaft Köln und erlangte durch ihre Ermittlungen zum CumEx-Steuerbetrug internationale Bekanntheit. Derzeit ist sie Co-Geschäftsführerin der Bürgerbewegung Finanzwende.

zurück

Bleib informiert!

Gute Arbeit, Geld, Gerechtigkeit - Abonniere unseren DGB einblick-Newsletter, dann hast du unsere aktuellen Themen immer im Blick.

Mit der Anmeldung wird dem Erhalt der ausgewählten Newsletter zugestimmt. Diese Einwilligung kann jederzeit widerrufen werden. Nähere Informationen zur Datenverarbeitung können in unserer Datenschutzerklärung nachgelesen werden.