Deutscher Gewerkschaftsbund

30.03.2020

Blankoscheck im Krisenfall? Ein Überblick zum Bevölkerungsschutzgesetz

Die uneinheitlichen Herangehensweisen der Bundesländer an die Bewältigung der Corona-Krise und ihrer Folgen haben im Bundesministerium für Gesundheit (BMG) den Gedanken nach einer zentralen Steuerung künftiger Ansätze zur Abwehr epidemiologischer Gefahrensituationen reifen lassen. Mit dem im Hauruck-Modus vom Regierungskabinett verabschiedeten Bevölkerungsschutzgesetz werden dem BMG politische Vollmachten in beispiellosen Umfang eingeräumt.

Menschen in Fußgängerzone

DGB/Pavlo Vakhrushev/123rf.com

Ausschlaggebend für die Vorlage des Referentenentwurfs in neuer Rekordzeit dürfte freilich nicht nur der empirisch ohnehin gesicherte Fakt eines individuellen Handelns der Bundesländer sein. Auf eben diese Eigenständigkeit der Länder in der Bewertung von Sachverhalten und dem Ziehen von Konsequenzen aus derartigen Bewertungen stellt der deutsche Föderalismus seinem Wesen nach ja ab. In einer länderübergreifenden Krisensituation wie der aktuellen Corona-Pandemie erweist sich aus Sicht des Bundesministeriums für Gesundheit aber, dass die geltende Rechtsgrundlage zur Epidemiebekämpfung, die in erster Linie ein Handeln der jeweiligen Länderbehörden auf Grundlage der landeseigenen Infektionsschutzgesetze vorsieht, keine adäquate Grundlage für eine bundesweite Koordinierung von Maßnahmen bereithält.

Und zweifellos macht die jetzige Ausnahmesituation ein schnelles und einheitliches Handeln unverzichtbar, um der akuten Gefahr für die öffentliche Gesundheit sowie für die sich aus dieser ergebenden Gefährdung der Stabilität der Gesundheits,- Wirtschafts- und Sozialsysteme Herr werden zu können. Der Entwurf zum Bevölkerungsschutzgesetz bedarf nichts desto trotz und gerade in dieser Krisenzeit eines prüfenden Blickes, denn was hier verhandelt und beschlossen wurde, ist sowohl hinsichtlich der Aussetzung zahlreicher parlamentarisch- demokratischer Verfahrensweisen und Grundsätze als auch in seinen konkreten Eingriffsmöglichkeiten in persönliche Rechte und in die Ausgestaltung der gesundheitsbezogenen Daseinsvorsorge einmalig.

Nach dem neuen Bevölkerungsschutzgesetz wird bei Feststellung einer epidemischen Notlage von nationaler Tragweite, die vorliegt, wenn entweder die WHO eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite ausruft oder die dynamische Ausbreitung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit über mehrere Länder in der Bundesrepublik Deutschland droht, durch den Bundestag eine umfassende Kompetenzausweitung für das Bundesministerium für Gesundheit beschlossen. Allein das ist schon insofern bemerkenswert, als dass im ursprünglichen Entwurf noch die Bundesregierung diese Feststellung hätte treffen sollen- somit hätte sich die Regierung selbst die Vollmacht erteilt, eine Notlage festzustellen und damit Teile der bestehenden Gewaltenteilung samt demokratischer und rechtsstaatlicher Verfahrenswege einzuschränken.

Auch wird nun auf Verlangen des Bundestages oder des Bundesrates die epidemische Notlage wieder aufgehoben, was ursprünglich ebenfalls der Bundesregierung vorbehalten bleiben sollte. Die dritte wichtige Begrenzung, die auf den letzten Metern des Gesetzgebungsverfahrens eingezogen wurde, war die Festlegung einer Frist, bis zu der diese Notlage unabhängig von der oben erwähnten Handhabung durch Bundestag oder Bundesrat gelten soll: spätestens zum 31. März 2021 sind alle bis dato beschlossenen Notfallmaßnahmen wieder aufzuheben. Das alles sind keine Detailfragen, bei denen die sperrige bundesrepublikanische Konsensfindung im Ausnahmefall einer Notlage eben zurückstecken muss, sondern essentielle Anforderungen an den Erhalt der parlamentarischen-demokratischen Legitimationsgrundlage allen politischen Handelns. Andernfalls wären im Rekordtempo von nur drei Tagen die ministerialen Befugnisse, mit denen das BMG zunächst innerhalb des kommenden Jahres tief ins öffentliche Leben eingreifen wird, ohne jede gesellschaftliche Diskussion und politische Debatte durchgewunken worden. Ein solches Geschehen wäre, gerade in Deutschland, nicht zu rechtfertigen.

Zu den neu gewonnenen Notlage- Kompetenzen des Bundes zählen (verkürzte Wiedergabe):

  • 1.) das Recht, einreisende Personen zur Preisgabe persönlicher Kontaktdaten, Reisedaten und Auskünfte über ihren Gesundheitszustand zu verpflichten;
  • 2.) das Recht, per Verordnung Ausnahmen von den Vorschriften dieses Gesetzes in Bezug auf die Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten, den Infektionsschutz und gesundheitliche Anforderungen beim Umgang mit Lebensmitteln zuzulassen, um die Versorgung der Bevölkerung aufrecht zu erhalten;
  • 3.) das Recht, per Verordnung Maßnahmen zur Sicherstellung der Versorgung mit Arzneimitteln, Medizinprodukten, Schutzausrüstung etc. zu erlassen;
  • 4.) das Recht, per Verordnung Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Gesundheitsversorgung in ambulanten Praxen, Apotheken, Krankenhäusern, Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen und sonstigen Gesundheitseinrichtungen in Abweichung von gesetzlichen Vorhaben sowie Beschlüssen der Selbstverwaltungspartner durchzuführen sowie
  • 5.) das Recht, per Verordnung Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der pflegerischen Versorgung in ambulanten und stationären pflegerischen Versorgungseinrichtungen in Abweichung von bestehenden gesetzlichen Vorgaben durchzuführen.

Was ist an diesem Paket von Befugniserweiterungen nun, abgesehen von den eingangs genannten kritischen Erstintentionen des BMG, so aufsehenerregend? Nahezu alles, denn zum einen wird für den Erlass einer beliebigen Maßnahme aus diesem Repertoire keine Zustimmung des Bundesrates benötigt, womit eine wichtige Institution der repräsentativen politischen Willensbildung ausfällt. Zum anderen wird das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit in Zusammenhang mit den erwähnten Verordnungsmöglichkeiten eingeschränkt, was die Ausübung staatlicher Zwangsmaßnahmen zu ihrer Durchsetzung einschließt.

Mit dem Ändern oder Ergänzen von Beschlüssen der Selbstverwaltungspartner im Rahmen des SGB V wird ein wesentliches Organisationsprinzip des Sozialstaates suspendiert, da die Vertreter der Versichertenseite und der Arbeitgeberseite die eigentlichen Konstituenten und Entscheidungsträger im Gesundheitssystem darstellen- immerhin vertreten sie sowohl beide Seiten der paritätischen Beitragserbringung als auch Versicherten als Patientinnen und Patienten. Durch die Aussetzung der gerade erst verabschiedeten Pflegepersonaluntergrenzen sowie durch die weitreichenden Möglichkeiten zur vorübergehenden Reorganisation der Pflege werden die Beschäftigten im Pflegesektor mit potentiell schlechteren Betreuungsschlüsseln und ausgeweiteten Aufgabenbereichen in einem ohnehin durch chronisch schlechte Arbeitsbedingungen geprägten Sektor konfrontiert. Die neuen Verordnungsmöglichkeiten im Bereich der Arzneimittel und Medizinprodukte schließlich erlauben unter anderem weitreichende Folgeeingriffe in geltende Regelungen, etwa zur Zulassung, Preisbildung und Verordnung von Produkten oder zu Fragen der Inverkehrbringung, Produktion, Belieferung und Verteilung innerhalb der Lieferketten.

Einer weiteren Idee, die noch im ersten Entwurf des Gesetzes vorgesehen war, wurde auf den letzten Metern zunächst eine Absage erteilt: Die Ermächtigung der Gesundheitsbehörden, Telekommunikationsanbieter zur Herausgabe von Telekommunikationsverkehrsdaten von Personen zu zwingen, um mit diesen personenbezogene Bewegungs- und Kommunikationsprofile zu erstellen. Was für manche nach Orwell’scher Dystopie und Überwachungsstaat klingt, hat zwar in einigen südostasiatischen Staaten anscheinend einen potentiellen Beitrag zur Überprüfung der Wirksamkeit der sozialen Isolationsstrategie geleistet. Die Summe der damit hierzulande angegriffenen Rechte, unter anderem auf Datenschutz, Datenhoheit, persönliche Freiheit und informationelle Selbstbestimmung, ist aber dermaßen umfangreich, dass derartige Eingriffe aus gutem Grund bisher nur durch Strafverfolgungsbehörden auf richterliche Anordnung hin und im Einzelfall erlassen werden können. Auch, wenn dieser Idee eine Absage erteilt wurde, muss es zu denken geben, dass sie einerseits weit in ein Gesetzgebungsverfahren vordringen konnte.

Andererseits wurde das Ansinnen nicht grundsätzlich beerdigt, sondern mit dem Hinweis des Bundesministeriums für Justiz, dass es für eine solche Maßnahme noch keine ausreichende Diskussionsgrundlage gäbe, eher ins Reich der künftigen Machbarkeiten verschoben. Zudem darf nicht aus dem Blick verloren werden, dass das Robert-Koch-Institut (RKI) bereits heute anonymisierte Bewegungsdaten der Telekommunikationsanbieter zur Verfügung gestellt bekommt, mit denen beispielsweise die Einhaltung von Mindestabständen zueinander im öffentlichen Geschehen überprüft werden kann – was, eingedenk aller bisherigen Erkenntnisse über die Anfälligkeit gesundheitsbezogener digitaler Daten für zweckentfremdende Zugriffe durch Dritte, bereits jetzt keine Nebensächlichkeit darstellt.

Angesichts des Umfangs und der Regelungstiefe dieses Gesetzes und der sich aus ihm ergebenden Kompetenzen zum Erlass von notfallbedingten Verordnungen wird die Zeit, in der die epidemische Notfalllage nationaler Tragweite in Deutschland gilt, in jeder Hinsicht neue Erfahrungen bringen: sowohl, was die Effektivität und Koordinationsfähigkeit der Bundesmaßnahmen zur Bekämpfung einer nie dagewesenen gesundheitsbezogenen Gefahrenlage angeht, als auch, was das zu erhoffende Augenmaß und den notwendigen umsichtigen Umgang seitens des BMG mit einer derartigen Kompetenzfülle betrifft.


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