Wenn man vor allem die deutschen Medien verfolgt, mag es verwundern, aber die Zahlen sind solide: Im Frühjahr diesen Jahres, als in Deutschland die Debatte über das vermeintliche Versagen der EU bei der Impfstoffbeschaffung tobte, gaben in den regelmäßigen Eurobarometer-Umfragen so viele Europäer wie zuletzt vor der Bankenkrise 2008 an, sie würden der Europäischen Union „vertrauen“ oder „eher vertrauen“ – immerhin 49 Prozent.
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Zum Vergleich: Zu der eigenen nationalen Regierung äußerten nur 36 Prozent ein ähnliches Vertrauen. Gleichzeitig legte auch die Zustimmung zur Europäischen Währungsunion und dem Euro europaweit kräftig zu. Tatsächlich sollten diese Ergebnisse keine Überraschung sein, denn die EU hat in den vergangenen 18 Monaten während der Corona-Krise viel stärker als in den Vorjahren getan, was die Bürgerinnen und Bürger von ihr erwarten: Geholfen, die Menschen vor den großen Risiken der Globalisierung zu schützen.
Die engen wirtschaftlichen Verknüpfungen innerhalb der EU haben den Bürgerinnen und Bürgern in Europa in den vergangenen Jahrzehnten spürbar Wohlstand gebracht. Die heimischen Märkte der meisten Länder wären zu klein, um etwa einer erfolgreichen Automobilindustrie einen ausreichend großen Heimatmarkt zu bieten. Die EU leistet genau das. Statt nur Deutschland als Heimatmarkt zu haben, kann heute etwa der Volkswagen-Konzern mit seinen einzelnen europäischen Marken auf die EU als Heimatmarkt bauen. Zudem erlaubt die grenzüberschreitende Arbeitsteilung innerhalb der Union Unternehmen eine tiefe Wertschöpfung in Europa zu halten, gleichzeitig aber global wettbewerbsfähig zu sein.
Gleichzeitig machen die wirtschaftlichen Verflechtungen die Volkswirtschaften innerhalb Europas auch anfälliger: Wie wir im Frühjahr 2020 gesehen haben, kann ein Zusammenbrechen der Lieferketten schnell massiven Schaden anrichten. In den Monaten ab April 2020 waren es fehlende Vorprodukte und eine eingebrochene Nachfrage bei den Handelspartnern, die den Großteil des Wirtschaftseinbruchs in Deutschland ausmachten, nicht die Schließungen von Gastgewerbe und Einzelhandel. Ohne offene Grenzen hätte sich das Corona-Virus wahrscheinlich wesentlich langsamer auf dem Kontinent verbreitet.
Die Menschen erwarten deshalb von den Europäischen Institutionen, dass diese sie gegen den Unbill der Globalisierung und gegen jene Risiken schützen, die durch die engeren wirtschaftlichen Verflechtungen entstanden. In der Frühphase der Corona-Krise funktionierte das eher mäßig bis schlecht. Exportverbote für medizinische Ausrüstungen wie Schutzkleidung sorgten in Ländern wie Italien für Unmut, wo die Pandemie zuerst besonders heftig wütete. Die EU war hilflos und handlungsunfähig.
Doch anders als etwa in der Euro-Krise ab 2010 raufte sich diesmal die EU schnell zusammen. Nicht nur wurden die Grenzen schnell wieder geöffnet. Innerhalb weniger Wochen wurde auf der EU-Ebene ein Milliarden-schwerer SURE-Fonds für die Unterstützung der nationalen Kurzarbeitsprogramme aus dem Boden gestampft. Zügig wurde dann ein massives europäisches Hilfspaket mit erstmals größerer gemeinschaftlicher Schuldenaufnahme der EU auf die Beine gestellt. Die Europäische Zentralbank verkündete ohne Verzögerung massive Programme zum Aufkauf von Staatsanleihen. Hoch verschuldeten Ländern wie Italien, Spanien und Portugal blieb ein Anstieg der Finanzierungskosten und neue spekulative Attacken an den Finanzmärkten auf die eigenen Staatsanleihen erspart, obwohl die Haushaltsdefizite dieser Länder in die Höhe schossen und die einbrechende Wirtschaftsleistung die nationalen Schuldenquoten hochtrieben.
Anders als nach der Euro-Krise sind deshalb derzeit die Aussichten auf eine wirtschaftliche Erholung auch in den Krisenländern recht robust. Die Stimmung unter italienischen Unternehmen etwa ist so gut wie seit Jahren nicht mehr. Für das zweite Halbjahr wird trotz der wachsenden Verbreitung der Delta-Variante mit kräftigem Wirtschaftswachstum gerechnet. Auch in anderen Teilen Europas deutet sich an, dass der tiefste Einbruch der Wirtschaftsleistung in der Nachkriegsgeschichte dank entschiedener wirtschaftspolitischer Reaktion zügig überwunden werden könnte. Dabei ist weithin anerkannt, dass die EU dazu einen wichtigen Beitrag geleistet hat.
Die EU sollte aus dieser positiven Erfahrung lernen und darauf aufbauen. Dazu gehört zum einen die Schaffung von Grundlagen, europäische Instrumente zur Unterstützung der nationalen Arbeitslosenversicherungen ebenso wie zur Stützung der nationalen Volkswirtschaften in der Krise zu permanenten Einrichtungen zu machen. Die Vorschläge einer EU-Arbeitslosenrückversicherung, die seit Jahren diskutiert werden, wäre hierzu ein erstes Element: Mit einem solchen Instrument könnte automatisch Staaten in tiefen Krisen finanziell geholfen und verhindert werden, dass bei einer Krise die Sozialleistungen einer Kürzung zum Opfer fallen. Den bisherigen SURE-Fonds könnte man in eine solche Struktur integrieren und sie um eine weitere Säule für die direkte Unterstützung der nationalen Arbeitslosengelder erweitern.
Ein weiteres Element wäre, den europäischen Corona-Wiederaufbaufonds der EU nicht auslaufen zu lassen, sondern in einen dauerhaften Investitionshaushalt der Europäischen Union weiter zu gestalten. Mit einem solchen Budget könnte die EU zum einen die Wirtschaft in von Krisen getroffenen Ländern stabilisieren, zum anderen wichtige Zukunftsaufgaben wie die Dekarbonisierung vorantreiben. Zum anderen sollte die EU bei der nun anstehenden Reform der Fiskalregeln darauf achten, den Mitgliedsstaaten mehr Spielraum für kreditfinanzierte Investitionen zu lassen. Unbedingt verhindern werden muss zudem, dass die Mitgliedsstaaten wie nach der Euro-Krise zu übermäßiger Austerität gezwungen werden, die die Erholung abwürgen würde und die Gefahr mit sich brächte, dass die in der Corona-Krise gestiegene Arbeitslosigkeit zu struktureller Arbeitslosigkeit wird.
Jetzt besteht die Chance, dass die EU das (leider noch weit verbreitete) Image einer kalten, zentralisierten Institution abwirft, die unter dem Banner freier Märkte die Bedürfnisse der Menschen vernachlässigt. Es wäre tragisch, wenn diese Chance ungenutzt verstreicht.