Deutscher Gewerkschaftsbund

19.01.2022

Wirtschaftspolitik in der EU als Balanceakt

von Judith Vorbach, AK Oberösterreich, Mitglied des EWSA

Die Wirtschaftspolitik muss ausbalanciert werden. Während Wettbewerbsfähigkeit und Haushaltskonsolidierung im Fokus stehen, geraten soziale Ziele und gerechte Verteilung allzu oft ins Hintertreffen. Für einen Ausgleich dieser Schieflage sind Ansätze vorhanden, die es dringend weiter auszubauen gilt. Eine weitere Verstärkung der einseitigen Herangehensweise wäre aufgrund der sozialen, politischen und auch ökologischen Folgen fatal.

Symbole und Piktogramme zu Wirtschaft und mit EU-Sternen

DGB/Evgeny Gromov/123rf.com

Mit den vier Grundfreiheiten des EU-Binnenmarktes wurden Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr liberalisiert. Durch die Schaffung der gemeinsamen Währung "Euro" wurde die Geldpolitik bei der Europäischen Zentralbank gebündelt. Gleichzeitig gibt der Stabilitäts- und Wachstumspakt den Mitgliedstaaten eine Grenze für das Defizit von drei und für die Verschuldung von 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes vor. Im Rahmen der "wirtschaftspolitischen Steuerung" wurde diese regelgebundene Haushaltspolitik nach der Eurokrise weiter ausgebaut und um die Einbeziehung makroökonomischer Ungleichgewichte zum Beispiel bei Importen und Exporten ergänzt. Besondere Bedeutung hat auch das Europäische Semester, das der Koordination der Haushalts- und Wirtschaftspolitik dient. Über die "Länderspezifischen Empfehlungen" wird dabei von EU-Ebene aus Einfluss auf nationale Politik genommen. Ziel dieser Koordinierungsverfahren ist eine Harmonisierung und Konvergenz der nationalen Wirtschaftspolitiken der europäischen Mitgliedstaaten.

Obwohl der EU-Binnenmarkt im internationalen Vergleich einen bedeutenden Wirtschaftsblock mit insgesamt relativ hohem Wohlstandsniveau darstellt, bleiben tiefe soziale und wirtschaftliche Ungleichgewichte zwischen und innerhalb der Staaten hartnäckig bestehen. Weit mehr als 20 Prozent der EU-Bürger*innen sind von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht, während andererseits über 50 Prozent des Nettovermögens bei den zehn Prozent der Reichsten konzentriert ist. Nach der Finanzmarktkrise 2008 folgte eine vertiefte und verlängerte wirtschaftliche Flaute, verursacht durch einen einseitigen Spar- und Kürzungskurs. Er bedeutete für viele Menschen große Wohlstandeinbußen. Erst 2014 nahm die Konjunktur langsam wieder Fahrt auf, wobei 2020 die sozialen Indikatoren mehrerer EU-Staaten noch immer unter dem Vorkrisenniveau lagen. Während öffentliche Investitionen so niedrig waren, dass der Anteil des öffentlichen Kapitals am BIP schrumpfte, zeichnete sich aufgrund der drohenden Klimakatastrohe ein immenser Investitionsbedarf ab. Im März 2020 traf die COVID-19-Pandemie die EU mit voller Wucht. Sie trat in die tiefste Wirtschaftskrise ihrer Geschichte ein.  

Mehr Balance!

Um alte, aktuelle und zukünftige Probleme gut zu bewältigen und auch nicht neuerliche Krisen im Wirtschaftsbereich anzufachen, ist eine wohlstandsorientierte, ausbalancierte Wirtschaftspolitik, die sich auf mehrere Ziele gleichzeitig konzentriert, angesagt: ökologische Nachhaltigkeit, integratives Wachstum, Vollbeschäftigung und qualitative Arbeit, gerechte Verteilung, Gesundheit und Lebensqualität, Finanzmarktstabilität, Preisstabilität, ausgewogener Handel und stabile öffentliche Finanzen. Die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen diesen Zielen müssen berücksichtigt und keines darf vernachlässigt werden. Zielkonflikte gilt es zu verhindern und eine gegenseitige Verstärkung zu forcieren.

Der einseitige Fokus auf öffentliche Finanzen bzw. auf Wettbewerbsfähigkeit führt zu einem zu geringen Investitionsniveau bzw. zu Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen. Hingegen könnte durch Stärkung der Einnahmenseite für öffentliche Investitionen und stabile Finanzen gleichzeitig gesorgt werden. Der Weg dorthin führt auf EU-Ebene unter anderem über eine Bekämpfung von Steuerumgehung und die Einführung neuer Eigenmittel für den EU-Haushalt, zum Beispiel einer Finanztransaktionssteuer. Die Sicherstellung der für ausgewogenen Handel notwendigen Wettbewerbsfähigkeit gelingt hingegen auf Basis der Förderung von Investitionen, technologischem Fortschritt, Digitalisierung, Bildung und Ressourceneffizienz.

Absicherung der Wirtschaft in der Pandemie

In der Coronakrise wurden Maßnahmen ergriffen, um die EU-Wirtschaft gegen eine stabilitätsgefährdende Schräglage zu schützen. Dazu gehört die Aktivierung der Ausweichklausel, sodass die Mitgliedstaaten die EU-Defizitgrenzen überschreiten konnten, um die massiven Folgen der Krise abzufedern. Einen weitreichenden Schritt stellt das Programm Next Generation EU dar, in dessen Rahmen die EU-Finanzmittel in Höhe von etwa 800 Mrd. Euro am Finanzmarkt aufnimmt und an die Mitgliedstaaten in Form von Zuschüssen und Darlehen weitergibt. Den Hauptteil bildet die Aufbau- und Resilienzfazilität. Ihre Mittelvergabe ist an die Einhaltung von Plänen gebunden, die zwischen Mitgliedstaaten und EU- Ebene abgestimmt sind. Die darin enthaltenen Maßnahmen müssen sich an den "Länderspezifischen Empfehlungen" des Europäischen Semesters orientieren und sollen zur Krisenbewältigung sowie zum grünen und digitalen Übergang ("Twin-Transition") beitragen. Eine soziale Abfederung wurde mit dem befristeten Programm SURE in Höhe von 100 Mrd. Euro eingerichtet, das Kurzarbeiterprogramme der Mitgliedstaaten unterstützt.

Ökologische Nachhaltigkeit und Wohlstandsorientierung

Die größte Herausforderung ist es, Wirtschaftswachstum so weit wie möglich von der Belastung des Klimas und der Umwelt zu entkoppeln, wobei gleichzeitig auf eine faire Verteilung der Kosten und Gewinne geachtet werden muss. Dies wird nur auf Basis einer umfassenden Einbeziehung der Sozialpartner*innen und vor allem der Arbeitnehmer*innenvertretung gelingen. Starke industrielle Wertschöpfungsketten in Europa und eine führende Rolle der europäischen Industrie bei der Erreichung der ökologischen Nachhaltigkeit sind wichtig zur Absicherung qualitativer Arbeitsplätze. Ein klug ausgestaltetes CO2-Grenzausgleichssystem kann dabei helfen. Bei der Förderung privater Investitionen durch öffentliche Mittel, zum Beispiel das Programm InvestEU auf europäischer Ebene, müssen die Schaffung guter Arbeitsplätze, die Achtung der Arbeitnehmer*innenrechte, der Umweltnormen und der steuerlichen Verpflichtungen im Vordergrund stehen. Änderungen im Steuerbereich dürfen nicht zur Mehrbelastung von Haushalten im unteren bis mittleren Einkommensbereich führen, die überdies von Energiearmut wegen der rasant steigenden Energiepreise bedroht sind.

Ausbalancierte wirtschaftspolitischen Steuerung

Aktuell findet endlich eine Überprüfung der wirtschaftspolitischen Steuerung statt. Der Modernisierungsbedarf lag bereits vor der Pandemie auf der Hand und wurde durch diese umso deutlicher. Anstatt intransparente und hochkomplexe Defizitregeln bindend zu machen und sie anderen Zielen überzustülpen, muss nachhaltiges und inklusives Wachstum als Voraussetzung für tragfähige öffentliche Haushalte begriffen werden. Eine goldene Regel für Zukunftsinvestitionen, welche diese aus relevanten Defizitkriterien ausnimmt, kann ein ausreichend hohes Niveau öffentlicher Investitionen sicherstellen. Eine weitere Kürzung laufender Ausgaben zum Beispiel im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsbereich gefährdet die Absicherung in unvorhersehbaren Lebenskrisen sowie die Sicherung der Nachfrage und Krisenfestigkeit. Gleichzeitig muss die Einnahmenseite gestärkt und fair gestaltet werden. Die Ausweichklausel soll erst dann aufgehoben werden, wenn Wirtschaftsentwicklung und Beschäftigung wieder ihr Vorkrisenniveau erreicht haben und der Übergang zu einer wohlstandsorientierten Haushaltspolitik geebnet ist.

Auch im Bereich der Überprüfung makroökonomischer Ungleichgewichte müssen die Zielsetzungen geradegerückt werden, sodass die zwischenstaatlichen Wechselwirkungen aufgrund ökologischer und sozialer Entwicklungen besser berücksichtigt sind. Damit soziale Ungleichgewichte frühzeitig erkannt und korrigiert werden, soll ein "Verfahren bei sozialen Ungleichgewichten" angestrebt werden.

Schließlich bedarf es einer Adjustierung des Europäische Semesterprozesses, da die Verwaltung der Aufbau- und Resilienzfazilität in diesen integriert wurde und ihm dadurch noch mehr Gewicht zukommt. Die umfassende Einbeziehung der Arbeitnehmer*innenvertretungen in Entwicklung und Umsetzung dieser Pläne ist daher unabdingbar. Für ihre Konsultation müssen Mindeststandards entwickelt werden, angelehnt an die Regeln der Kohäsionspolitik, wie das Partnerschaftsprinzip. Angesichts der starken Ausrichtung des Semesters auf Wettbewerbsfähigkeit und Haushaltskonsolidierung ist ein wohlstandsorientierter Ausgleich notwendig. Daher ist es erfreulich, dass nun ein stärkerer Fokus auf die Grundsätze der Säule sozialer Rechte gelegt wird. Denn soziale Ziele müssen im Rahmen der Länderspezifischen Empfehlungen besser berücksichtigt werden.

Wohlstandsorientierte Wirtschaftspolitik nur auf sozialer Basis

Leider hinken im Binnenmarkt noch immer Sozial- und Arbeitsrecht den wirtschaftlichen Grundfreiheiten hinterher. Während Letztere im EU-Vertrag verankert sind, gelten nationale Arbeitnehmer*innenschutzrechte oft als administrative Wettbewerbsbeschränkungen. Mittels eines sozialen Fortschrittprotokolls soll dagegen Abhilfe geschaffen werden. In dieselbe Richtung geht der Vorschlag zur Einführung des Grundsatzes der Gleichbehandlung aller Marktfreiheiten sowie der Einführung eines neuen Rechtfertigungsgrundes zum Schutz nationaler Arbeitsrechtsbestimmungen. Schließlich soll sich die EU nicht nur einen grünen und digitalen Wandel vornehmen, sondern auch soziale Nachhaltigkeit mit gleichem Engagement anstreben. Die Weiterentwicklung der politischen Zielsetzung von der "Twin" zur "Triple Transition" wäre ein willkommenes Signal für eine wohlstandsorientierte Ausrichtung der EU-Wirtschaftspolitik.


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