Nicht nur Schiffe können unter Billigflagge fahren – auch im Lkw-Verkehr gibt es inzwischen ähnliche Phänomene. Transport- und Logistik-Experte Professor Karlheinz Schmidt beklagt zunehmendes "social dumping" im europäischen Güterverkehr. Er fordert, nationale Mindestlohnvorschriften "ohne Wenn und Aber" anzuwenden.
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Prof. Dr. Karlheinz Schmidt im Interview
Frage: Sie beklagen um sich greifendes „social dumping“ im europäischen Güterverkehr. Was meinen Sie damit?
Prof. Schmidt: Man missbraucht bewusst die Dienstleistungsfreiheit, die nur eine vorübergehende Betätigung aller Unternehmen in allen Mitgliedsstaaten garantiert, um zunehmend die sozialen Rechte der Arbeitnehmer zu unterwandern und damit den fairen Wettbewerb zwischen den Unternehmen ad absurdum zu führen.
Beschreiben Sie uns als Experte für das Transportlogistikgewerbe doch einmal, welches Geschäftsmodell dahinter steckt und welche Hintergründe es hat.
Durch die Erweiterung der Europäischen Union im Jahr 2004 ergibt sich bis heute ein hohes Lohn- und Sozialkostengefälle. Dies wirkt im besonderen Maße auf den Verkehrsbereich, der mit „mobilen Produktionsstätten“ (Lastkraftwagen) in den Transportmärkten groteske Blüten treibt und zum Verdrängungswettbewerb über Sozialdumping führt.
BGL
Prof. Dr. Karlheinz Schmidt ist geschäftsführendes Präsidialmitglied des BUNDESVERBANDS GÜTERKRAFTVERKEHR LOGISTIK UND ENTSORGUNG (BGL) e.V. in Frankfurt/Main
Zu diesem Zweck wird durch kapitalstarke Anbieter die im Vertrag garantierte Dienstleistungsfreiheit ihres eigentlichen Sinns und Zwecks beraubt. Ganze Fuhrparks mit mehreren hunderten und oftmals auch tausenden Fahrzeugen wurden formell auf EU-Beitrittsländer „umgeflaggt“.
„Umgeflaggt“ im Logistikgewerbe – was bedeutet das?
In den jeweiligen Märkten bislang beschäftigtes Fahrpersonal wurde durch Fahrpersonal aus den EU-Beitrittsländern ersetzt, das zu den weitaus niedrigen Lohn- und Sozialbedingungen des Entsendelandes tätig wird. In einer Art modernen Nomadentums leben diese Fahrerinnen und Fahrer oft monatelang im Fahrerhaus und verbringen dort ihre gesamte Ruhe- und Freizeit. Nur wenige Tage werden sie meist per Bus in ihre Heimatländer zurückgeführt und im fliegenden Wechsel durch andere Fahrerinnen und Fahrer aus den Entsendeländern „ausgetauscht“. Durch diese Art der Personalrotation werden die jeweiligen Lohn- und Sozialbedingungen unmittelbar in zentraleuropäische Länder dauerhaft exportiert, in denen die umgeflaggten Fuhrparks vornehmlich zum Einsatz kommen. Dem Fahrpersonal wird eine gerechte Entlohnung vorenthalten, und der Wettbewerb mit den in den betroffenen Mitgliedsstaaten niedergelassen Unternehmen entartet zu einem funktionslosen Verdrängungswettbewerb.
Und wie verhalten sich die Regierungen in diesen Staaten?
Wie sehr der unfaire Wettbewerb durch nationale Regierungen unterstützt wird, stellt die litauische Regierung unter Beweis. Damit die überwiegend in Deutschland stationierten Fahrzeuge nicht einmal mehr zur halbjährlichen technischen Überwachung in ihr Zulassungsland zurückkehren müssen, wurden von der litauischen Regierung die deutschen technischen Überwachungsvereine mit dieser Aufgabe amtlich beauftragt.
Allein diese Maßnahme dokumentiert, wie groß das eigentliche Umflaggungspotenzial ist, das sich ganz und gar nicht nur auf Litauen oder einzelne EU-Beitrittsländer bezieht, sondern mittlerweile ein echtes Massenphänomen geworden ist.
Was fordern Sie als Konsequenz aus diesen Zuständen?
Der BGL als Vertreter von rund 7.000 mittelständischen Transportlogistikunterneh-men in Deutschland fordert, dass dieser offenkundige Missbrauch der Dienstleis-tungsfreiheit eingedämmt wird und das Fahrpersonal nach den Lohn- und Sozial-bedingungen der EU-Mitgliedsstaaten beschäftigt werden muss, in denen es überwiegend zum Einsatz kommt. Es gilt dabei, klar und deutlich die Grenzen der Dienstleistungsfreiheit zu beschreiben und die Anwendung nationaler Mindestlohnvorschriften ohne Wenn und Aber möglich zu machen.
Dies sollte vorzugsweise durch eine gesamteuropäische Regelung erfolgen, in die die besonders kontrovers kritisierten Mindestlohnregelungen in Deutschland und Frankreich eingebettet werden können. Bis zur Einführung einer entsprechenden gesamteuropäischen Regelung fordern wir, bestehende nationale Mindestlohnregelungen nicht zu beanstanden bzw. mit adäquaten Mitteln deren Durchsetzung zu betreiben. Nur so kann kurzfristig der offenkundige Missbrauch der Dienstleistungsfreiheit mit unsäglichen sozialen Missständen für zehntausende von Fahrerinnen und Fahrern begegnet werden.
Wir vertrauen darauf, dass die EU-Kommission sich baldmöglichst der damit verbundenen sozialpolitischen Verantwortung stellt und diese inakzeptablen Wettbewerbspraktiken abstellt. Jedenfalls darf aus unserer Sicht nicht länger geduldet werden, dass unter dem Deckmantel der Dienstleistungsfreiheit als europäisches Grundrecht andere ebenso hochwertige Errungenschaften der Europäischen Union, wie soziale Gerechtigkeit und fairer Wettbewerb, ausgehebelt werden. Die in den Verkehrsmärkten eingezogenen Praktiken dürfen nach unserer Einschätzung nicht länger eine legale Basis behalten und von der Europäischen Union geduldet werden.