Am 3. Oktober jährte sich die Deutsche Einheit zum 35. Mal. Viel Zeit ist vergangen — mehr als ein Drittel der heutigen Bevölkerung wurde nach 1990 geboren und kennt nur ein wiedervereintes Deutschland. Wirtschaftlich liegt Ostdeutschland jedoch weiterhin zurück. Besonders deutlich wird das bei den Löhnen.
Vollzeitbeschäftigte im Osten verdienen unter Berücksichtigung von Sonderzahlungen, wie u.a. Weihnachts- und Urlaubsgeld, im Schnitt 13.374 Euro brutto weniger pro Jahr als ihre Kolleg*innen im Westen. Das entspricht einer Entgeltlücke von fast 21 Prozent. Symbolisch heißt das: 21 Prozent des Jahres, also vom 16. Oktober bis Jahresende — insgesamt 76 Tage — arbeiten Beschäftigte im Osten rechnerisch umsonst.
Der Unterschied bei der Tarifbindung ist besonders stark, was wiederum ein wesentlicher Grund für die unterschiedlichen Lohnhöhen ist. Nur 42 Prozent der Beschäftigten in Ostdeutschland arbeiten in tarifgebundenen Betrieben, im Westen sind es 50 Prozent. Die geringere Tarifbindung im Osten wirkt sich auch auf Sonderzahlungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld aus, die meist tariflich geregelt sind und ostdeutschen Beschäftigten seltener oder in geringerem Umfang gezahlt werden. Tarifverträge sind daher das beste Mittel, um Lohngerechtigkeit herzustellen — sie sorgen direkt für mehr Geld im Portemonnaie.
Dort, wo nach Tarif gezahlt wird, ist die Lohnlücke kleiner. Der Tarifvorteil ist im Osten besonders groß. Im Westen verdienen Beschäftigte mit Tarifvertrag im Schnitt 526 Euro mehr, im Osten sind es sogar 718 Euro brutto im Monat.
Die anhaltende Lohnungleichheit zwischen Ost und West ist nicht nur ökonomisch ungerecht. Sie verstärkt das Gefühl sozialer Benachteiligung vieler Ostdeutscher. Die Menschen im Osten leisten die gleiche Arbeit und verdienen die Anerkennung, die ihnen zusteht. Gerechte Löhne sind auch eine Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die Lohnlücke zu schließen, bleibt ein offenes Versprechen der Deutschen Einheit. Eine gestärkte Tarifbindung macht den Osten auch zu einem attraktiveren Arbeits- und Lebensraum, hält qualifizierte Fachkräfte und schafft Perspektiven. Auch deshalb muss die Tarifbindung wieder gestärkt werden.
Beschäftigte können mit ihrer Gewerkschaft für die Tarifbindung ihres Unternehmens kämpfen. Aber auch die Politik ist gefordert. Der Bundestag muss unter anderem endlich ein wirksames Bundestariftreuegesetz beschließen, damit öffentliche Aufträge nur noch an Unternehmen gehen, die ihre Beschäftigten nach Tarif bezahlen. Das schafft faire Wettbewerbsbedingungen, sichert stabile und faire Löhne und stärkt den Wirtschaftsstandort Ostdeutschland.
Zudem müssen weitere Instrumente zur Stärkung der Tarifbindung, wie ein verbessertes Zugangsrecht für Gewerkschaften in die Betriebe und eine verbesserte steuerliche Absetzbarkeit von Gewerkschaftsbeiträgen bei der Einkommensteuer, endlich umgesetzt werden, wie im Koalitionsvertrag vereinbart. Zusätzlich zu den bisherigen Plänen der Bundesregierung brauchen wir weitere gesetzliche Regelungen – beispielsweise, um Tarifverträge leichter für alle Unternehmen einer Branche allgemeinverbindlich zu machen und für die Fortgeltung von Tarifverträgen bei Betriebsausgliederungen.