Deutscher Gewerkschaftsbund

07.05.2019

Irrwege zwischen Brüssel und Rom

In Giuseppe Verdis „La Traviata“ – zu Deutsch: „die vom Wege Abgekommene“ – geht es um die junge Violetta, die in ihrer Liebe gleich mehrmals vom rechten Weg abkommt. Sie besinnt sich zwar letztlich zurück auf den richtigen Pfad – doch ehe sie dies genießen kann, stirbt sie an Tuberkulose. Auch Verdis Heimatland schlägt dieser Tage im wahrsten Sinne des Wortes „neue Wege“ ein – und zwar auf Chinas „Neuer Seidenstraße“.

Italien/Italienische Flagge auf Holz

DGB/pockygallery/123RF.com

Wer China zum Freund hat, braucht keine Feinde mehr

Als erstes westliches Industrieland ist Italien seit kurzem Teil des chinesischen Großprojekts, das neue Handelskorridore zwischen China und seinen globalen Partnern schaffen soll. Bei einem Besuch von Chinas Staatschef Xi in Rom Ende März wurden nun erste konkrete Projekte beschlossen. Von Seiten der EU-Partner hagelte es herbe Kritik: Italien trage durch sein Beitreten zur „Neuen Seidenstraße“ dazu bei, dass Europa sich weiter spalten lasse, statt dem „Systemrivalen“ China mit geeinter Stimme entgegenzutreten. Außerdem sei es höchst fraglich, welche geostrategischen und wirtschaftlichen Ziele China mit dem Ankauf von infrastrukturellen Knotenpunkten im Ausland verfolge.

Was treibt die italienische Regierung dazu, trotz aller Kritik derart fragwürdige Geschäfte mit China zu machen? Die Antwort ist beunruhigend: Italiens Wirtschaft ist seit 20 Jahren nicht mehr gewachsen und auch in diesem Jahr wird das italienische Bruttoinlandsprodukt (BIP) wieder stagnieren. Die Arbeitslosigkeit liegt seit Jahren deutlich über dem europäischen Durchschnitt (Dezember 2018: 10,3 Prozent, EU: 6,7 Prozent) und insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit ist seit der Krise kaum gesunken, sie liegt bei über 30 Prozent. Hinzu kommt, dass die traditionell starken Sektoren der italienischen Wirtschaft – das verarbeitende Gewerbe und der Bausektor – in den letzten zehn Jahren einen Beschäftigungsrückgang von insgesamt 1,4 Millionen Stellen zu verzeichnen hatten.

Die Regierungskoalition aus dem linkspopulistischen Movimento 5 Stelle und der rechtsradikalen Lega ist angetreten, diesen großen wirtschaftlichen Problemen mit noch größeren Wahlversprechen entgegenzutreten. Z.B. mit dem viel diskutierten „Bürgergeld“, das jedoch entgegen der Beteuerungen im Wahlkampf kein bedingungsloses Grundeinkommen ist: Alleinstehende sollen Anspruch auf 780€ im Monat haben – aber nur, wenn sie gemessen an einem komplizierten Indikator als bedürftig eingestuft werden. Es handelt sich dabei um ein politisches Instrument, dessen Berechnungsmethoden den Kreis der Empfänger*innen je nach Bedarf einschränken oder erweitern können.

Und selbst für diejenigen, die die Zugangsbedingungen erfüllen, hält das „Bürgergeld“ weitere Hürden bereit: Zuverdienste jeglicher Art werden zu 100% angerechnet, die Empfänger*innen müssen sich arbeitslos melden und dürfen keine Jobangebote ablehnen. Außerdem erfolgt die Auszahlung der 780€ über eine Prepaid-Karte, die nur beschränkt Bargeldauszahlungen ermöglicht. Nur wer 10 Jahre in Italien gelebt hat, kann Zugang zum „Bürgergeld“ zu erhalten. Die Bürger*innen scheinen zu erkennen, dass die Regierung ihre Unzufriedenheit mit der extremen Einkommensungleichheit und mangelnden sozialen Sicherheit nur eingeschränkt ernst nimmt. Vor allem die großen Sozialstaatsversprechen des M5S haben sich als Enttäuschung erwiesen und bewirkten laut Umfragen einen Rückgang von 10 Prozent, sie liegt bei 22 Prozent.

Teure Reformen mit geringem Nachfrageeffekt

Ebenso kontraproduktiv wie die kleinen Wahlgeschenke ist die Reaktion der EU-Kommission auf deren Folgen für das italienische Budget. Die Regierungskoalition wollte den Haushalt durch eine höhere Neuverschuldung von ursprünglich 2,4 Prozent des BIP ausgleichen. Doch da die Gesamtlast der italienischen Schulden so auf 131 Prozent des BIP gestiegen wäre – also mehr als doppelt so viel wie im EU-Stabilitäts- und Wachstumspakt vorgesehen – drohte die EU-Kommission mit der Eröffnung eines Defizitverfahrens. Nach zähem Ringen verpflichtete sich die Regierung dazu, die Neuverschuldung von 2,4 Prozent auf 2,04 Prozent zu reduzieren und die neuen Sozialleistungen um mehr als 10 Milliarden Euro zu kürzen. Diese Budgetschnitte werden laut jüngsten Berechnungen dazu führen, dass das „Bürgergeld“ und weitere expansive Maßnahmen keinerlei positiven Effekte auf die Binnennachfrage haben werden. Und das Budget-Chaos könnte schon bald in die nächste Runde gehen, da die Regierung nun doch wieder von einer Neuverschuldung um die ursprünglich angepeilten 2,4 Prozent spricht.

Doch wen kümmert es eigentlich, dass Italien weit hinter den im Stabilitäts- und Wachstumspakt geforderten 60 Prozent Staatsverschuldung bleibt? Damit steht das Land ohnehin längst nicht allein: Insgesamt verfehlen ganze 14 Mitgliedstaaten das 60 Prozent-Ziel, darunter zurzeit auch (noch) Deutschland (61 Prozent). Geht es bei Stabilität wirklich um die schiere Höhe der Schulden oder nicht vielmehr um die Auswirkungen, die diese auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung haben? Viel wichtiger als die nackten Zahlen auf der Schuldenuhr ist die Schuldentragfähigkeit eines Landes. In Italien finden wir in dieser Hinsicht sehr positive Indikatoren: Das Land erwirtschaftete 2017 den drittgrößten Exportüberschuss im Euroraum und sein jährlicher Schuldendienst macht nur 5 Prozent des BIP aus. Wichtiger noch für die Schuldentragfähigkeit: der Saldo der italienischen Leistungsbilanz ist seit 2013 ohne Unterbrechung positiv und lag 2017 bei +2,8 Prozent des BIP (Rang acht weltweit).

Schulden sind nicht gleich Schulden

Anstatt die italienische Staatsverschuldung zum Anlass für weitere pro-zyklische Austeritätspolitiken zu nehmen, bedarf es in Bezug auf die Konvergenzkriterien des Stabilitäts- und Wachstumspakts eines Umdenkens: Wenn der Pakt kein Hindernis für wichtige strukturelle und fiskalische Anpassungen sein soll, müssen öffentliche Investitionen in Infrastrukturen durch eine „Goldene Regel für Investitionen“ von den Konvergenzkriterien ausgenommen werden. Erst wenn die italienische Wirtschaft durch Investitionen und eine gestiegene Binnennachfrage wieder stabile Wachstumszahlen erreicht, werden die nötigen Strukturreformen durchsetzbar sein. Und hier kommt die „Neuen Seidenstraße“ wieder ins Spiel: Ein Festhalten am Stabilitäts- und Wachstumspakt in seiner jetzigen Form wird langfristig auch andere Mitgliedstaaten in die Arme von Investoren oder Staatsfonds aus Drittstaaten treiben, weil sie durch die Konvergenzkriterien daran gehindert werden, selbst Maßnahmen zur Nachfragestabilisierung zu ergreifen.

Die italienischen Gewerkschaften stehen der gegenwärtigen Situation fassungslos gegenüber. Der größte Verband, die Confederazione Generale Italiana del Lavoro (CGIL), forderte auf seinem Kongress Anfang Januar eine wirtschaftspolitische 180°-Wende: mehr Investitionen, mehr Steuergerechtigkeit, ein progressiver Mindestlohn und eine pro-europäische Ausrichtung der italienischen Politik. Die Regierung indes sucht schon seit Jahren nicht mehr den Dialog mit den Sozialpartnern – und blieb dem Kongress der CGIL heuer das erste Mal ganz fern. Dies bot den Gewerkschaften Anlass für eine großangelegte Protestveranstaltung am 9. Februar dieses Jahres, zu der in Rom 200.000 Menschen gegen die verfehlte Prioritätensetzung der Regierung auf die Straße gingen. Es war seit langer Zeit der erste gemeinsame Aufruf der drei großen Gewerkschaften CGIL, CISL und UIL.

In seiner Antrittsrede hob der neue Generalsekretär der CGIL Maurizio Landini vor allem zwei strategische Leitlinien hervor: Zum einen müssten sich die Gewerkschaften wieder mehr als gesellschaftliche Bewegung verstehen und sich „neuen“ Beschäftigtengruppen, insbesondere Scheinselbstständigen und prekär Beschäftigten, stärker zuwenden. Dies spiegelt sich auch in seiner europapolitischen Agenda wider: Es gehe nicht um „pro oder contra“ Europa, sondern um ein besseres Europa für Arbeitnehmer*innen, in dem EU-weite Mindeststandards dem Sozialdumping ein Ende bereiten. Zum anderen sieht er die Aufgabe der Gewerkschaften in einem klar antirassistischen Engagement. Italien habe kein Einwanderungsproblem, so Landini, im Gegenteil: Es wandern erstmals wieder mehr Arbeitnehmer*innen aus als durch Migration nach Italien kommen. Die CGIL und ihre Mitstreiterinnen müssten sich mehr für die Inklusion ausländischer Arbeitskräfte einsetzen und Solidarität mit Geflüchteten zeigen – eine klare Ansage an die faschistische Regierungspartei Lega, die in den Umfragen aktuell auf schwindelerregende 37 Prozent kommt.

Violetta, die tragische Heldin aus „La Traviata“, fällt einem Hustenanfall zum Opfer, bevor sie auf den Weg der Tugend zurückkehren kann. Wenn die Europäische Union – die durch ihre Austeritätspolitik ebenfalls vom Weg der (wirtschaftlichen) Raison „abgekommen“ ist – wieder auf gerade Bahnen finden möchte, dann muss sie sich sputen. Lässt sie sich zu viel Zeit, wird sie an ihren Stabilitätskriterien ersticken.

Lukas Hochscheidt, DGB-BVV


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