Es bietet keine ausreichende soziale Sicherheit, sondern führt oft in einen Teufelskreis aus Armut: Wie lässt sich das aktuelle Hartz IV-System überwinden und eine bessere Form der Grundsicherung schaffen? Auf einer Tagung in Berlin hat DGB-Vorstand Annelie Buntenbach Ideen dafür vorgestellt.
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Die Mängelliste des Hartz IV-Systems ist lang. Im Zentrum der Kritik seit Langem: die zu niedrigen Regelsätze, die nicht vor Armut schützen. Doch wie kann man die Probleme lösen? Und wie muss eine Grundsicherung aussehen, die wirksam vor Armut schützt und die Würde der Menschen bewahrt?
Darüber haben Politiker und Wissenschaftler im Januar 2019 auf einer Veranstaltung der Hans-Böckler-Stiftung diskutiert. Titel der Tagung: "Hat Hartz IV eine Zukunft?" Für den DGB war Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach dabei. Sie hat die grundlegenden Probleme des aktuellen Systems aus gewerkschaftlicher Sicht skizziert und Vorschläge für eine Reform der Grundsicherung vorgestellt.
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Annelie Buntenbach beginnt mit einer Bestandsaufnahme - und einer massiven Kritik am Niedrigslohnsektor, der durch das Hartz IV-System und insbesondere die dort verankerten Sanktionen befeuert wird.
"Deutschland hat den größten Niedriglohnbereich in Westeuropa. Hier muss jeder vierte für weniger als 10,44 Euro die Stunde arbeiten", so Buntenbach. Dieser riesige Niedriglohnbereich sei ein großes Problem - nicht nur für die Betroffenen, die von ihrer Arbeit nicht leben können und weder Sicherheit noch Perspektive haben, sondern für die gesamte Gesellschaft: "Die Angst vor dem Absturz, wenn man seinen Job verliert, weil zum Beispiel die Firma zumacht, die wirkt bis tief in die Mitte der Gesellschaft hinein, und sie lähmt."
Damit sind auch diejenigen, die Arbeit haben, von Hartz IV betroffen. Aus Angst, den Job zu verlieren und in Hartz IV abzurutschen, lassen sich Beschäftigte oft zu viel gefallen; vor allem dann, wenn sie nur einen befristeten Vertrag haben. Sie scheuen vor Konflikten mit den Vorgesetzten zurück und wagen nicht, für die eigenen Interessen und die der Kolleginnen und Kollegen einzutreten. "Das ist ein Schaden für die Demokratie", warnt Annelie Buntenbach: "Der aufrechte Gang im Betrieb darf nicht zur Mutprobe werden."
Ein weiteres Problem sind die aktuellen Zumutbarkeitsregelungen. "Wer ins SGB2 kommt, muss bei Androhung scharfer Sanktionen ab sofort jede Arbeit annehmen, auch unter Tarif und ohne Sozialversicherung; gleich, was er oder sie gelernt hat. Und wer trotz Berufsabschluss einmal an der Kinokasse gelandet ist, der wird schon nach einigen Monaten kaum noch die Chance haben, seine höhere Qualifikation am Arbeitsmarkt geltend zu machen und wieder etwas anderes zu finden – der oder die bleibt einfach da hängen", kritisiert Buntenbach.
Das wirkt sich auch für die Wirtschaft kontraproduktiv aus: "Wenn Fachkräfte fehlen und ernsthaft Qualifikationen und Innovationen das Ziel sind, auf das wir uns ausrichten, dann können wir uns keinen so großen Bereich leisten, in dem die Menschen hängen bleiben und ihrer Qualifikation entwertet werden", so Annelie Buntenbach". "Anstatt so viele Menschen in einen Teufelskreis aus niedriger Qualifikation, niedriger Produktivität und niedrigen Löhnen zu schicken, müssen wir Aufwärtsmobilität am Arbeitsmarkt organisieren und in die Menschen investieren."
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"Sanktionen, die Menschen unter das Existenzminimum drücken, sind nicht akzeptabel. Dazu kommt: Die Sanktionsdrohung wirkt disziplinierend auf alle Arbeitssuchende im Hartz IV-Bezug. Arbeitssuchende, die wissen, dass sie bei Ablehnung einer Arbeit sanktioniert werden, können nicht frei und selbstbewusst mit ihren Arbeitgebern über Löhne und Arbeitsbedingungen verhandeln. Und die Pflicht, nahezu jede Arbeit annehmen zu müssen, wirkt zusätzlich als Beschleuniger von prekärer Beschäftigung.
Das alles spielt denjenigen Arbeitgebern in die Hände, deren Geschäftsmodell auf prekärer und niedrig entlohnter Arbeit beruht.“
"Es ist an der Zeit, das Hartz IV-Unwesen zu beenden und die Würde der Leistungsbezieher wieder in den Mittelpunkt zu stellen", fordert Annelie Buntenbach. So könne auch eine weitere Spaltung der Gesellschaft verhindert werden. Um das zu erreichen, müssen konkrete Veränderungen im System vorgenommen werden.
Durch eine Stärkung und Ausweitung der Arbeitslosenversicherung kann das Abrutschen in Hartz IV vermieden werden. Dazu gehören
"Das Abrutschen von Beschäftigten mit langer Erwebsbiographie ins Hartz IV-System wird als zutiefst ungerecht empfunden."
Annelie Buntenbach
Erklärtes Ziel von Hartz IV ist die Integration von Menschen in den Arbeitsmarkt. Menschen, die erwerbstätig oder in der Ausbildung sind, gehören also eigentlich gar nicht ins System - trotzdem sind über 25 Prozent der Menschen, die Hartz IV-Leistungen empfangen, so genannte Aufstocker. Das muss sich ändern - indem diese Menschen durch andere Sicherungssysteme aufgefangen werden. Dafür müssen
"Es ist ein Unding, dass Vollzeitbeschäftigte auf Hartz IV angewiesen sind, weil die Löhne so schlecht sind und die Tarifbindung nicht funktioniert - oder dass sie da reingeraten, nur weil sie Kinder haben oder eine hohe Miete zahlen müssen."
Annelie Buntenbach
„Fördern und fordern“ ist der Leitsatz bei Hartz IV – doch bislang steht das Fordern klar im Vordergrund, die Förderung kommt massiv zu kurz. Obwohl inzwischen zwei Drittel der Arbeitslosen auf Hartz IV angewiesen sind, wird nur ein Bruchteil durch Weiterbildung gezielt unterstützt. Dabei ist Qualifikation ein entscheidender Faktor beim (Wieder-)Einstieg in den Arbeitsmarkt.
Um Langszeitarbeitslosen den Ausstieg aus Hartz IV zu ermöglichen fordert der DGB
"Statt den Menschen Fördermaßnahme überzustülpen, sollten Integrationsziele und Integrationsschritte auf Augenhöhe ausgehandelt und im Einvernehmen verabredet werden."
Annelie Buntenbach
Da das Hartz IV-System keine ausreichende soziale Sicherheit bietet, sieht der DGB grundsätzlichen Reformbedarf. Dabei geht es nicht um einzelne Randaspekte oder das Drehen an einigen kleinen Stellschrauben, sondern um Wesensmerkmale von Hartz IV, die überwunden werden müssen.
Unter dem Titel "Soziale Sicherheit statt Hartz IV" hat der DGB Vorschläge formuliert, wie eine neue Form der Grundsicherung aussehen kann, die tatsächlich Schutz vor Armut bietet. Wesentliche Elemente sind unter anderem:
"Die Grundsicherung, wie wir sie heute haben, behandelt Leistungsberechtigte vielfach als weitgehend rechtlose Objekte und respektiert ihre Würde nicht angemessen."
Annelie Buntenbach
Der DGB-Bundesvorstand hat ein Debattenpapier zu Hartz IV beschlossen. Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften fordern darin eine grundlegende Neuausrichtung der sozialen Absicherung bei Arbeitslosigkeit.