Deutscher Gewerkschaftsbund

03.12.2012
Arbeitsmarkt auf den Punkt gebracht 04/2012

Arbeitsmarktstudie: Weiterhin hohe Barrieren für behinderte Menschen

Mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich Deutschland 2009 verpflichtet, den Arbeitsmarkt komplett barrierefrei zu gestalten. Das bedeutet: Gleiches Recht auf Arbeit für behinderte Menschen. Doch drei Jahre später ist die Arbeitslosenquote bei diesen unverändert hoch.

Die Gesellschaft altert und damit stehen immer mehr schwerbehinderte Menschen zwischen 15 und 65 Jahre dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. 2006 waren circa 1,1 Millionen Menschen mit Handicap beschäftigt oder arbeitslos gemeldet, 2010 rund 1,2 Millionen. Dabei ist die Zahl derjenigen mit Beschäftigung in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen - von 934.000 im Jahr 2006 auf über eine Million Erwerbstätige in 2010.

Nach einer Phase des Rückgangs steigt die Arbeitslosigkeit seit 2009 wieder an. Die Arbeitslosenquote nahm seitdem ebenfalls zu - obwohl in den Jahren 2010 und 2011 ein Aufschwung mit allgemein sinkender Arbeitslosigkeit den Arbeitsmarkt bestimmte.

Quelle: Statistik der BA, eigene Berechnungen

Übersicht: Schwerbehinderte Beschäftigte und Arbeitslose im Zeitverlauf

Schwerbehinderte

2006

2007

2008

2009

2010

2011

Beschäftigte

934.101

949.320

985.271

1.018.002

1.039.640

k.A.

Anteil an allen Beschäftigten

4,3%

4,2%

4,3%

4,5%

4,5%

k.A.

Arbeitslose

197.000

178.310

165.990

168.096

175.356

180.307

Arbeitslosenquote

17,7%

15,8%

14,7%

14,6%

14,8%

14,8%

 

 

 

 

 

 

 

Arbeitslose profitieren kaum vom wirtschaftlichen Aufschwung

Schwerbehinderte Menschen konnten nach der Krise nicht in dem Maße wie andere Arbeitslose vom Aufschwung profitieren. Wenn behinderte Menschen bei Neueinstellungen mit nichtbehinderten Bewerberinnen und Bewerbern konkurrieren sind sie oftmals im Nachteil. Denn zu viele Unternehmen gehen immer noch davon aus, dass sie weniger leisten können als Menschen ohne Handicap.

Die Arbeitslosenquote schwerbehinderter Menschen ist seit Jahren überdurchschnittlich hoch und liegt mit derzeit fast 15 Prozent weit über der allgemeinen Arbeitslosigkeit von rund 6,5 Prozent im November 2012. Auch mit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention vor drei Jahren hat sich die Situation nicht verbessert. Im Gegenteil: Der Abstand zwischen allgemeiner Arbeitslosenquote und der Arbeitslosenquote Schwerbehinderter ist in den letzten Jahren sogar gewachsen.

Grafik: Arbeitslosenquoten im langjährigen Verlauf

Allgemein: Arbeitslosenquote bezogen auf abhängig beschäftigte zivile Erwerbspersonen. Schwerbehinderte: Arbeitslose des Jahres bezogen auf Zahl der schwerbehinderten abhängig beschäftigten Erwerbspersonen des Vorjahres. Grafik: DGB/Zahlen: Statistik Bundesagentur für Arbeit

Die hohe Arbeitslosigkeit bei schwerbehinderten Menschen taucht im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung vom Juni 2011 leider nicht auf. Dabei wäre sie ein geeigneter Indikator, um die Barrierefreiheit des Arbeitsmarktes zu messen. Denn auf einem so genannten inklusiven Arbeitsmarkt ohne jegliche Barrieren, dürfte die Arbeitslosenquote von schwerbehinderten Menschen nicht deutlich über der allgemeinen Arbeitslosigkeit liegen.

Fast zwei Drittel der Unternehmen bleiben unter gesetzlicher Pflichtquote

In Deutschland haben Unternehmen ab 20 Beschäftigten die Pflicht, mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen zu besetzen (§ 71 SGB IX). Unterschreitet ein Unternehmen die Quote, wird eine gestaffelte Ausgleichsabgabe von bis zu 290 Euro pro Monat pro unbesetzten Pflichtplatz fällig. Wie schon in den Vorjahren wurde die Beschäftigungspflicht 2010 mit durchschnittlich 4,5 Prozent nicht erfüllt. Die privaten Arbeitgeber blieben mit 4,0 Prozent unter der Pflichtquote, während die öffentlichen Arbeitgeber mit 6,3 Prozent das Soll sogar übertrafen. Allerdings hat sich die Situation in den vergangen zehn Jahren verbessert - noch 2002 lag die Quote bei 3,8 Prozent. Ein Sonderfall sind kleine Firmen mit bis zu 60 Mitarbeitern: Für sie sieht § 71 SGB IX eine geringere Pflichtquote vor, deshalb bestehen die Belegschaften dort im Durchschnitt zu nur rund drei Prozent aus Menschen mit Behinderung.

Metallindustrie, Energie und Öffentlicher Dienst über dem Durchschnitt

Es gibt Branchen, die zeigen, wie es geht und an denen andere sich orientieren könnte. Positive Beispiele sind die Metallindustrie, Autohersteller, die Energie- und Wasserversorgung, aber auch Post oder Museen. Darunter finden sich sowohl öffentliche als auch große privatwirtschaftliche Unternehmen, die fünf Prozent oder mehr schwerbehinderte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigen. Viel zu gering ist der Anteil der schwerbehinderten Beschäftigten vor allem in Werbung, Filmproduktion und Marktforschung, wo weniger als zwei Prozent der Belegschaften schwerbehindert sind. Fast zwei Drittel (61 Prozent) der beschäftigungspflichtigen deutschen Arbeitgeber bleiben unter der Pflichtquote von fünf Prozent. Beinah ein Drittel (31 Prozent) - es sind überwiegend private Arbeitgeber – beschäftigen keine Beschäftigten oder weniger als ein Prozent.

Doch obwohl Unternehmen weit unter den gesetzlichen Vorgaben bleiben, schließt die Bundesregierung bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in der Arbeitswelt weitergehende gesetzliche Vorgaben zur Beschäftigung schwerbehinderter Menschen definitiv aus. Sie setzt ausschließlich auf die Freiwilligkeit der Unternehmen.

Weniger Förderung trotz höherer Arbeitslosenzahlen

Doch die Unternehmen zu mehr Beschäftigung schwerbehinderter Menschen zu verpflichten reicht nicht aus. Um ihre Teilhabe am Arbeitsleben zu fördern, sind auch geeignete arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen nötig. Die Bundesregierung hat jedoch 2010 tiefgreifende Kürzungen bei der Betreuung und Vermittlung von Arbeitslosen beschlossen. Beginnend mit dem Haushaltsjahr 2011 wurden die Mittel insbesondere im Hartz IV-System deutlich zusammen gestrichen. Begründet wurden die milliardenschweren Streichungen damit, dass die Arbeitslosigkeit nach der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise 2009/2010 zurückgegangen sei. Allerdings sind die Kürzungen im Verhältnis weit höher als der Rückgang der Arbeitslosigkeit.

So ist die Zahl der Arbeitslosen 2011 im Vergleich zum Vorjahr um acht Prozent gesunken. Die Zahl der Teilnehmenden in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen ist mit 21 Prozent jedoch weit stärker gesunken. Die Zahl der schwerbehinderten Arbeitslosen stieg 2011 sogar entgegen dem Trend (+2,8 Prozent). Diese Entwicklung wurde durch keine besonderen Fördermaßnahmen abgefangen. Im Gegenteil, auch bei den Maßnahmen für schwerbehinderte Menschen gab es 22 Prozent weniger Teilnehmende als im Vorjahr. Schwerbehinderte Menschen sind durch die Kürzungen der Bundesregierung damit sogar etwas stärker betroffen, zumal sich die Arbeitslosigkeit leicht erhöht hat.

 Quelle: Statistik der BA, Berechnungen des DGB

Übersicht: Entwicklung Arbeitslose und Teilnehmende in Maßnahmen

 

2010

2011

Veränderung in Prozent

Arbeitslose, insgesamt

3.238.421

2.975.823

-8,1%

Teilnehmer in Maßnahmen insgesamt

1.553.449

1.227.110

-21,0%

Arbeitslose, schwerbehindert

175.356

180.307

+2,8%

Schwerbehinderte Teilnehmer in Maßnahmen insgesamt

54.216

42.336

-22,0

Arbeitsmarktmaßnahmen für Behinderte empfindlich gekürzt

Behinderte Menschen können auch an allgemeinen Arbeitsmarktmaßnahmen teilnehmen. Ein bewährtes Instrument für benachteiligte Zielgruppen war bisher der sogenannte Beschäftigungszuschuss nach §16 e SGB II. Dabei erhielten Arbeitgeber, die besonders schwer vermit­telbare Langzeitarbeitslose beschäftigen, bis zu 75 Prozent des Ent­gelts als Zuschuss. Dieser konnte ursprünglich unbefristet gewährt werden. Doch 2012 strich der Gesetzgeber diese Möglichkeit. Jetzt wird der Beschäftigungszuschuss nur noch für maximal zwei Jahre gezahlt. Zudem wurde die Pflicht zur tariflichen Bezahlung ersatzlos gekappt. Die Folge: Seit vergangenem Jahr hat sich die Zahl der Teilnehmenden in diesen Maßnahmen halbiert.

In der Arbeitslosenversicherung kümmern sich spezialisierte Fachkräfte in sogenannten Reha/Schwerbehinderten-Teams (Reha/SB-Teams) um die Qualifizierung und Vermittlung behinderter Menschen. Allerdings betreuen die Arbeitsagenturen nur den kleineren Teil (38 Prozent) der schwerbehinderten Arbeitslosen. Der Großteil (62 Prozent) ist auf Grundsicherung zum Lebensunterhalt angewiesen und wird vom Hartz IV-System betreut. 

Für sie stehen nicht zwingend spezialisierte Vermittler bereit, da Reha/SB-Teams im Hartz IV-System zur Betreuung von behinderten Menschen empfohlen werden, aber nicht vorgeschrieben sind. Dies hat u.a. zur Folge, dass die Chancen von schwerbehinderten Arbeitslosen auf Rehabilitationsmaßnahmen im Hartz IV-System deutlich geringer sind, als in der Arbeitslosenversicherung (siehe Arbeitsmarkt aktuell 7/2012).

Der DGB fordert

1. Um die hohe Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen abzubauen, müssen die Unternehmen mehr Menschen mit Behinderung beschäftigen. Diejenigen Unternehmen, die ihrer gesetzlichen Beschäftigungspflicht gar nicht oder nur in geringem Umfang nachkommen, benötigen stärkere Anreize, um diese Haltung zu ändern. Ein wirkungsvoller Anreiz wäre es, die Ausgleichsabgabe zumindest für große und mittlere Unternehmen zu erhöhen, die weniger als drei Prozent schwerbehinderte Menschen beschäftigen.*)

2. Menschen mit Behinderung sind überdurchschnittlich von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen. Der DGB fordert für die Zielgruppe der am Arbeitsmarkt stark benachteiligten Menschen, die Wiedereinführung eines arbeitsmarktpolitischen Instruments, dass es ermöglicht, einen tariflich bezahlten Arbeitsplatz auch längerfristig zu fördern.

3. Auch im Hartz IV-System muss es flächendeckend speziell geschulte Fachkräfte geben, die Behinderungen und Reha-Bedarf erkennen und qualifiziert beraten und vermitteln können. Damit notwendige Maßnahmen auch stattfinden, muss im Haushalt der SGB II-Träger ein eigenes Budget für Berufli­che Reha eingestellt werden. Hier muss der Bund ein deutli­ches Signal setzen, dass auch Menschen im Hartz-IV-System einen Anspruch auf professionelle Betreuung und Reha-Leistungen haben und notwendige, aber kostenintensive Maßnahmen nicht durch billigere und kurzfristige Maßnahmen wie Ein-Euro-Jobs verdrängt werden.


*) Die bestehenden Ausnahmeregelungen für Kleinunternehmen mit bis zu 60 Beschäftigten können weiterhin bestehen bleiben.


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Hu­bert Hüp­pe: "Nicht auf die Fä­hig­kei­ten Schwer­be­hin­der­ter ver­zich­ten"
Rollstuhlfahrer - im Hintergrund leerer Rollstuhl
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Menschen mit Handicap haben es schwer auf dem Arbeitsmarkt, ihre Arbeitslosenquote stagniert seit Jahren auf hohem Niveau. Hubert Hüppe, Schwerbehindertenbeauftragter der Bundesregierung, sieht die Arbeitgeber in der Pflicht. Er will Vorbehalte gegen die angeblich mangelnde Leistungsfähigkeit schwerbehinderter Menschen abbauen. Viele seien genauso produktiv wie andere Beschäftigte.
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Zur Lage der beruflichen Rehabilitation in der Arbeitsförderung

Dokument ist vom Typ application/pdf.

Mit Einführung des Hartz IV-Systems sind die Anforderungen an die berufliche Rehabilitation gestiegen. Doch durch die Neuregelung hat dazu geführt, dass weniger Reha-Bedarfe anerkannt werden. Der DGB fordert unter anderem eine bessere Vermittlung der Betroffenen in den Arbeitsmarkt und die Aufstockung der finanziellen Mittel.


Eine Arbeitswelt für alle (Langfassung)

Dokument ist vom Typ application/pdf.

Ein Diskussionspapier des DGB zur besseren beruflichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung entsprechend der UN-Konvention.


Eine Arbeitswelt für alle (Kurzfassung)

Dokument ist vom Typ application/pdf.

Maßnahmen zur besseren beruflichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung entsprechend der UN-Konvention. Aktualisierte Version 2012.