Deutscher Gewerkschaftsbund

09.11.2020
Arbeitsmarkt: Zahl des Monats

Von 450 auf 600 Euro: Warum die Anhebung der Minijobgrenze eine Katastrophe wäre

Argumente der Arbeitgeber im Faktencheck

Sie haben keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld, werden schneller gekündigt und sind auch sonst sozial kaum abgesichert - trotzdem wollen Union und FDP die Minijobs massiv ausweiten, indem sie die Verdienstgrenze von 450 auf 600 Euro anheben. Damit würden allein 470.000 Menschen, die jetzt noch regulär beschäftigt sind, sofort unfreiwillig zu Minijobbern.

Text: Zahl des Monats: 450.000 Menschen mit regulären Jobs werden ungewollt zu Minijopbbern, wenn die Verdienstgrenze von 450 auf 600 Euro angehoben wird

Positive Entwicklung wird torpediert

Es ist davon auszugehen, dass die Einführung des Mindestlohnes einen – wenn auch relativ geringen - positiven Effekt auf die Umwandlung von Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung hatte. Dadurch ist es gelungen, insbesondere mehr Frauen in eine sozial absichernde Beschäftigung zu bringen. Nun soll aber dieser Effekt, nach Vorstellungen der Union und der FDP, durch eine Erhöhung und Dynamisierung der Minijobgrenze komplett torpediert werden: Die Minijobgrenze soll erst von aktuell 450 Euro auf 530 bis 600 Euro angehoben werden und in Zukunft dauerhaft, gekoppelt an den Mindestlohn, steigen.

Rasanter Anstieg der Minijobber

Der Soforteffekt einer solchen Erhöhung auf 600 Euro wäre, dass etwa 470.000 aktuell regulär Beschäftigte ungewollt in geringfügige Beschäftigung fallen würden. Auch darüber hinaus ist ein rasanter Anstieg der Minijob-Anzahl zu erwarten, denn um nach Abzug von Sozialversicherungsbeiträgen auf 600 Euro netto zu kommen, müssen Beschäftigte in der aktuellen Gleitzone über 700 Euro brutto verdienen und somit ca. 75 Stunden pro Monat arbeiten (bei Mindestlohn). Wenn es nun möglich wäre, ca. 11 Stunden weniger pro Monat zu arbeiten und trotzdem dasselbe Netto-Gehalt von 600 Euro zu erhalten, ist davon auszugehen, dass viele von den aktuell ca. 433.000 Beschäftigten in dieser Gehaltsgruppe - auf Kosten ihrer sozialen Absicherung - ihre Beschäftigungsverhältnisse in Minijobs umwandeln würden.

Tabelle: Monatliche Bruttoarbeitsentgelte zwischen 450 und 700 Euro
Entgelt Dezember 2019 Anzahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigte
451 - 500 Euro 137.083
501 - 550 Euro 162.505
551 - 600 Euro 167.175
601 - 700 Euro 433.031

Argumente der Arbeitgeber im Faktencheck

Mit anderen Worten: Eine solche Erhöhung und Dynamisierung der Minijobgrenze wäre eine arbeitsmarktpolitische und gleichstellungspolitische Katastrophe, die zur Etablierung eines dauerhaft hohen Sockels an sozialversicherungs- und steuerfreien Beschäftigungsverhältnissen führt. Sämtliche Argumente, mit denen eine solche Erhöhung rechtfertigt wird, sollen diese Tatsache verschleiern.

  • Arbeitgeber-Argument #1: Minijobs sollen auch weiterhin als flexible Beschäftigungsform sinnvoll genutzt werden können

    Fakt ist aber: Minijobs sind arbeitsrechtlich nicht flexibler als sozialversicherungspflichtige Teilzeit. Es ist für die Arbeitgeber zum Beispiel demnach rechtswidrig

    • Minijobber*innen ohne Einhaltung der gesetzlichen Kündigungsfristen zu entlassen,
    • unbezahlte Probearbeit für einen längeren Zeitraum und bei voller Integration in den betrieblichen Arbeitsabläufen zu verlangen,
    • keine Mindestarbeitszeiten pro Monat vertraglich zu vereinbaren,
    • Arbeitseinsätze kurzfristig, mit weniger als vier Tage Vorlauf einseitig zu bestimmen.

    Darüber hinaus ist die Leistung von Überstunden durch die starre Einkommensgrenze nur bedingt abrufbar. Deshalb eignet sich diese Form von Beschäftigung eigentlich am wenigsten für den Ausgleich von Auftragsspitzen. Eine höhere Flexibilität bei Minijobs kann nur bei Missachtung von Arbeitsrechten gegeben sein.

  • Arbeitgeber-Argument #2: Minijobber*innen sollten auch etwas von Mindest- und Tariflohnerhöhungen haben

    Fakt ist aber: Mit der Anhebung der Grenze würden zwar die Monatslöhne der Minijobber geringfügig steigen, allerdings nicht ihre Stundenlöhne: Sie werden für denselben Lohn mehr arbeiten müssen. Schon jetzt haben Minijobs eine Subventionierung und Ausbreitung niedriger Brutto-Stundenlöhne zur Folge.

    Weil Minijobber*innen den Arbeitnehmeranteil an der Sozialversicherung nicht zahlen müssen, werden sie von Anfang an mit niedrigeren Brutto-Löhnen abgespeist und es werden ihnen Grundrechte wie bezahlter Urlaub oder Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall verweigert. Mehrere Studien zeigen, dass die Stundenlöhne von Minijobber*innen deutlich unter denen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten liegen und auch der gesetzliche Mindestlohn bei geringfügig Beschäftigten viel häufiger umgangen wird.

  • Arbeitgeber-Argument #3: Wenn Minijobber*innen mit jeder Mindestlohnerhöhung immer weniger arbeiten, haben wir ein Fach- und Arbeitskräfteproblem

    Fakt ist aber: Genau das Gegenteil ist der Fall. Eine weitere Erhöhung der geringfügigen Beschäftigung würde den Fachkräftemangel verstärken. Mehr Beschäftigte in der Gleitzone würden, wie oben dargestellt, mit hoher Wahrscheinlichkeit ihre Arbeitszeit bei gleichbleibendem Gehalt reduzieren.

    Darüber hinaus ist zwar der Großteil der Minijobber*innen gut ausgebildet, übt aber mehrheitlich eine Helfertätigkeit aus. Beachtliche Fachkräftepotentiale werden dadurch verkannt und bleiben unbenutzt. Eine längere unterwertige oder ausbildungsfremde Tätigkeit führt für die*den Einzelne*n zu Dequalifizierung und zu einer Entwertung des bestehenden Berufsabschlusses.

    Eine Erhöhung der Grenze deckt nicht nachhaltig den Bedarf an Fach- und Arbeitskräften. In fünf Jahren werden sich keine Beschäftigte mehr finden, die für 600 Euro den Job machen wollen. Der Mangel muss deshalb nachhaltig durch Anreize zur Arbeitszeiterhöhung, Aus- und Weiterbildung und insgesamt besseren Arbeitsbedingungen angegangen werden. Dafür müssen bestimmte Branchen – vor allem im Dienstleistungssektor, auf den knapp 90 Prozent der Minijobs ausfallen – ihr Geschäftsmodell ändern. In der Reinigung arbeiten beispielsweise 1,1 Millionen Minijobber*innen, mehr als jeder zweite Job in der Reinigung ist ein Minijob. In der Gastronomie, bei Berufen im Tourismus, in der Hotellerie und in Gaststätten sieht es ähnlich aus. Hier haben Minijobs schon längst die reguläre Beschäftigung verdrängt.

  • Arbeitgeber-Argument #4: Minijobs sind eine wichtige Brücke (zurück) in den Arbeitsmarkt

    Fakt ist aber: Es besteht in der wissenschaftlichen Debatte eine weitgehende Einigkeit darüber, dass Minijobs keine Brückenfunktion in Richtung einer sozialversicherungspflichtigen (Vollzeit-)Beschäftigung erfüllen. Im Gegenteil kommen mehrere Studien zu der Erkenntnis, dass vor allem bei Frauen, die ausschließlich geringfügig beschäftigt sind, durch Minijobs eine „schnell einsetzende und hohe Klebewirkung einsetzt. (…) Frauen, die einmal im Minijob waren, finden nur zu einem geringen Teil den Übergang in reguläre, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.“

    Einerseits liegt das an den hohen Grenzkosten einer Umwandlung von Minijobs in Normalbeschäftigung. Trotz der Gleitzonenregelung, in der Sozialabgaben nur langsam auf den normalen Satz ansteigen, erscheinen die Kosten einer Umwandlung aufgrund der steil einsetzenden Steuerpflicht sehr hoch. Besonders ausgeprägt ist dieser Effekt bei Ehepartnern, die die Steuerklassenkombination III/V wählen. Andererseits treten mit zunehmender Dauer in oft berufsfremde und unterwertige geringfügigen Beschäftigung Dequalifikationseffekte ein, die die Chance auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung stark verringern.

Das will der DGB

Die realen Konsequenzen des Modells Minijob sind in der aktuellen Corona-Krise deutlicher denn je: Geringfügig Beschäftigte sind nicht über Kurzarbeit abgesichert. Sie sind die ersten, die im Falle einer Krise entlassen werden, und wenn sie krank werden oder kurzfristig für die Betreuung ihrer Kinder Urlaub nehmen müssen, wird ihnen oft der Anspruch auf Lohnfortzahlung bzw. bezahlten Urlaub verweigert. Bis Ende Juni 2020 sind ca. 326.000 Minijobs weggebrochen und die Beschäftigten aller Voraussicht nach in der Grundsicherung gelandet.

Gerade in dieser Zeit eine Erhöhung und Dynamisierung der Minijobgrenze zu verlangen hält der DGB für unverantwortlich. Im Gegenteil ist der einzig vertretbare Schluss, der aus der Krise zu ziehen ist, die dringend notwendige Überführung der Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.


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