Deutscher Gewerkschaftsbund

23.04.2021
Saisonarbeit bei Ernte

Beispiellose Aushöhlung des Sozialstaates

Unhaltbare Zustände, schlechte Unterkünfte, hohes Infektionsrisiko für ErntehelferInnen

Saisonbeschäftigte arbeiten mitten in der Corona-Pandemie für Monate ohne Kranken- und Sozialversicherung. Ein weiteres Jahr mit unhaltbaren Zuständen, schlechten Unterkünften und hohem Corona-Infektionsrisiko für ErntehelferInnen steht uns bevor. Es ist ein sozialpolitisches Desaster, dass wir diese Debatte jedes Jahr neu führen und die Bundesregierung jedes Jahr wieder vor der Landwirtschaftslobby einknickt, meint Anja Piel, DGB-Vorstandsmitglied.

Arbeiter bei der Spargelernte

DGB/123rf

Auf Druck der Landwirtschaftsverbände und des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft hat sich die Bundesregierung auch dieses Jahr auf eine Ausweitung der 70-Tage-Regelung für ErntehelferInnen eingelassen. Im Omnibusverfahren mit dem Seefischereigesetz haben die Abgeordneten des Bundestags der Ausweitung der sozialversicherungsfreien Zeit für Beschäftigte in der Saisonarbeit von 70 auf 102 Tage zugestimmt. 

Mindestlohnbetrug, schlechte Unterkünfte, hohes Corona-Infektionsrisiko

Anja Piel, DGB-Vorstandsmitglied kritisiert: "Union und SPD machen die Erntearbeit für mehr als 50.000 Menschen auch im zweiten Corona-Jahr wieder zur Hochrisikozone und knicken damit erneut vor den Lobbyisten der Landwirtschaft ein. Billig, billig, billig – sollen die Arbeitskräfte sein, ohne die es in Deutschland keinen Spargel, keine Erdbeeren und keinen Wein geben würde. Damit stehen Arbeitgebern für diese Erntesaison wieder Tür und Tor offen, um Menschen ohne Sozialversicherung auf den Feldern arbeiten zu lassen. Aus den skandalösen Zuständen in der Fleischwirtschaft wurde offenbar nichts gelernt. Die Abgeordneten von CDU und SPD haben abgestimmt – gegen sozialen Schutz, Rente und Krankenversicherung für die Beschäftigten. Und das trotz des verbreiteten Mindestlohnbetrugs, der schlechten Unterkünfte und trotz des hohen Corona-Infektionsrisikos."

Aktuell berichtete u.a. die Augsburger Allgemeine dazu. 

Was soll sich ändern bei der Saisonarbeit?

1. Vom 1. März 2021 bis einschließlich 31. Oktober 2021 wird die kurzfristige Beschäftigung auf längstens vier Monate oder 102 Tage im Kalenderjahr ausgeweitet. Die Regel gilt nicht für vor dem Inkrafttreten bereits begonnene Beschäftigungsverhältnisse.

Die Ausweitung der 70-Tage-Regelung wird damit begründet, dass man durch längere Laufzeiten weniger Beschäftigte anwerben wolle, um so das Übertragungsrisiko des Virus zu verringern. Das ist ein Scheinargument: die kurzfristig beschäftigten SaisonarbeiterInnen, die zu ca. 80 Prozent aus anderen EU-Ländern kommen, könnten sowieso schon länger als 70 Tage in Deutschland arbeiten. Dann würde allerdings die Sozialversicherungspflicht greifen, was die Arbeitgeber vermeiden wollen. Diese Ausweitung ist kritisch zu bewerten, denn:

  • Sie stellt eine weitere Aushöhlung der Sozialversicherungspflicht in Deutschland dar. Sie wurde eigens für die Landwirtschaft geschaffen, gilt aber auch für alle anderen Branchen, in denen sie dazu führt, dass neben der 450-Euro-Regelung immer mehr Einkommen aus abhängiger Beschäftigung aus dem Schutz der Sozialversicherung herausfällt. Neben der Landwirtschaft wird die Regelung oft auch in der Lagerwirtschaft, Post und Zustellung sowie der Gastronomie angewandt.
  • Beschäftigten entstehen dadurch – vor allem bei jährlich wiederkehrender Saisonarbeit – bedeutende Lücken im Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherungsverlauf.

  • Sie ist stark missbrauchsanfällig dadurch, dass die Feststellung einer eventuellen Berufsmäßigkeit auf eine Selbstauskunft der Beschäftigten basiert und nicht ausreichend geprüft werden kann. Keine Berufsmäßigkeit wird beispielsweise bei StudentInnen, RentnerInnen, Hausmännern oder Hausfrauen vorausgesetzt. So geben die meisten Beschäftigten an, sie seien in ihrem Herkunftsland Hausmänner/Hausfrauen. Weitere Nachweise sind nicht notwendig. Die Einzugsstelle kann zudem nicht abschließend beurteilen ob die Beschäftigung für den/die ArbeitnehmerIn von untergeordneter wirtschaftlichen Bedeutung ist und nicht zur Sicherung des Lebensunterhaltes dient. 

    2. Ab 1. Januar 2022 muss der Arbeitgeber bei der Meldung der kurzfristig Beschäftigten bei der Knappschaft (Minijobzentrale) auch angeben, wie diese für die Dauer der Beschäftigung anderweitig krankenversichert sind (gesetzlich oder privat). Diese Regelung soll  im Rahmen eines Berichts der Bundesregierung bis Ende des Jahres 2026 evaluiert werden.

    Die Einführung einer Nachweispflicht des Arbeitgebers bezüglich der Krankenversicherung ist grundsätzlich positiv zu bewerten. Aktuell kommt es vielfach vor, dass Beschäftigte ohne Wohnsitz in Deutschland weder in ihren Herkunftsländern noch in Deutschland krankenversichert sind. Im Falle einer Erkrankung müssen sie die Kosten für die Behandlung im Zweifel sogar aus eigener Tasche tragen. Um sich gegen solche Risiken abzusichern, schließen die Landwirte oft private Gruppen-Krankenversicherungen für ihre ErntehelferInnen ab.

    Negativ und nicht nachvollziehbar ist, dass diese Regelung erst 2022 in Kraft treten soll, wobei sie gerade zu aktuellen Pandemiezeiten bitter notwendig wäre. Ebenfalls negativ ist, dass das Gesetz ausdrücklich eine vom Arbeitgeber nur für die Zeit der Beschäftigung abgeschlossene private Gruppenversicherung (beispielsweise für Saison-Arbeitskräfte) als ausreichenden Nachweis der Krankenversicherung zulässt. Das Leistungsspektrum dieser Gruppen-Versicherungen ist unklar und die nachträgliche Geltendmachung von Leistungsansprüchen gegenüber einer solchen privaten (Gruppen-)Krankenversicherung aus dem Herkunftsland ist für die Beschäftigten mit besonderen Herausforderungen verbunden. Die bessere Regelung wäre hier ein Versicherungsnachweis in der gesetzlichen Krankenversicherung gewesen.

    3. Bei Anmeldung eines geringfügigen Beschäftigten soll die Knappschaft (Minijobzentrale) dem Arbeitgeber elektronisch mitteilen, ob zum Zeitpunkt der Anmeldung für den Beschäftigten weitere kurzfristige Beschäftigungen bestehen oder in demselben Kalenderjahr bestanden haben.

    Diese Neuregelung ist positiv zu bewerten. Arbeitgeber hatten bislang nicht immer Kenntnis über andere sozialversicherungsfreie Beschäftigungszeiten im selben Kalenderjahr, was zu einer Falschmeldung führen konnte. Durch die automatische Mitteilung wird die etwaige Sozialversicherungspflicht am Anfang des Beschäftigungsverhältnisses geklärt. Negativ ist, dass die Regelung auch erst 2022 in Kraft treten soll.

 


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