Deutscher Gewerkschaftsbund

25.05.2020
Für eine neue europäische Wirtschaftsordnung nach der Krise

Kein „Zurück auf Los“

von Lukas Hochscheidt und Susanne Wixforth (beide DGB)

Nach der Corona-Krise kann es in Europa kein „Weiter wie bisher“ geben. Die EU muss die Webfehler ihrer Wirtschafts-Regierung nachhaltig beseitigen und Ungleichheiten innerhalb wie zwischen den Mitgliedstaaten entschlossen bekämpfen. Dies gilt insbesondere für die Länder mit gemeinsamer Währung. Fällt die Reaktion auf die aktuelle Krise ähnlich kurzsichtig aus wie nach der Euro-Krise, drohen der EU weitere Austrittsszenarien.

Europa-Flagge

DGB/delcreations/123rf.com

Das Brettspiel Monopoly schärft schon Kindern die Funktionslogik der kapitalistischen Wirtschaft ein: Um zu gewinnen, muss man mehr haben als die anderen. Doch die wohlfeilste Regel, die Monopoly seinen Spieler*innen einbläut, ist die: Wenn etwas schiefläuft, geht man einfach „Zurück auf Los“ – und das alte Spiel fängt mit neuem Glück (und Geld) von vorne an. Die Spielregel des „Zurück auf Los“ findet leider auch im echten Leben Anwendung. Nach der großen Rezession von 2008 und der sogenannten Euro-Krise wurden zwar einige Weichen neu gestellt. Doch die Regeln des Spiels bleiben dieselben: Austerität, kaputt gesparte Gesundheits- und Sozialsysteme, immer größer werdende Ungleichheiten zwischen und innerhalb der Mitgliedsstaaten. Nach der Corona-Krise kann es deshalb kein „Zurück auf Los“ geben: Wir müssen die Spielregeln der europäischen Wirtschaftsordnung fundamental verändern, wenn die EU Bestand haben soll.

Lehren aus Corona     

Die Covid-19-Pandemie zeigt einmal mehr die mangelnde Krisenfestigkeit der Union. Die Krisen der Zukunft – seien es nun Wirtschafts-, Finanz- oder pandemische Krisen – werden europäische und globale Krisen sein. Auch wenn sie nicht alle Mitgliedstaaten gleich stark treffen, wird die EU als Ganze immer geschwächter aus ihnen hervorgehen. Europa braucht daher in erster Linie mehr Solidarität: Zwischen den Mitgliedstaaten muss endlich das Versprechen der sozialen Aufwärtskonvergenz eingelöst werden. Aber auch innerhalb der Mitgliedstaaten muss die Union gegen die bestehenden Ungleichheiten durch harmonisierte Mindeststandards für die sozialen Sicherungssysteme und eine Stärkung der staatlichen Einnahmenseite Vorsorge treffen. Nicht nur braucht die EU mehr Eigenmittel, auch ihre Mitgliedstaaten müssen sich primär über Steuereinnahmen finanzieren können, um sich aus der Abhängigkeit von den Finanzmärkten zu lösen.

Die Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion ist bis heute unvollendet. Während die währungspolitische Integration des Euroraums vollständig ist, verfolgen die Eurostaaten weiterhin eigene Fiskal- und Wirtschaftspolitiken, die sie in einen Wettbewerb um niedrigere Steuern, geringerem Sozialschutz und günstigeren Lohnkosten zwingen, um Unternehmensansiedlungen anzulocken. Statt wirtschaftlichem und sozialem Zusammenhalt, wie ihn Art. 3 des Vertrags über die Europäische Union fordert, erleben wir v.a. in der Eurozone, wie sich die vernachlässigte Verteilungsfrage innerhalb der Mitgliedstaaten in abnehmender Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten ausdrückt.

Eine „Zukunftsstruktur“ für die Wirtschafts- und Währungsunion

Um dieser gefährlichen Entwicklung entgegenzuwirken, müssen wir eine tragfähige, solidarische „Zukunftsstruktur“ schaffen, die zwei Funktionen erfüllt: Sie muss die Union in Krisenzeiten stabilisieren und asymmetrische ökonomische Schocks abfedern; und sie muss die Systeme innerhalb der Mitgliedstaaten konsolidieren. Diese Doppelfunktion könnte u.a. eine europäische Arbeitslosenrückversicherung erfüllen, die nationale Arbeitslosenversicherungen im Fall eines Wirtschaftseinbruchs stützt und die Weiterzahlung von Leistungen sicherstellt. Gleichzeitig könnte die Rückversicherung auch für eine nachhaltige Stärkung der mitgliedstaatlichen Systeme sorgen, indem sie ihre Zahlungen an die Bedingung knüpft, dass diese robust und solidarisch finanziert werden. Mit dem nun von Kommission und Rat beschlossenen SURE-Programm wird hier ein erster Schritt in die richtige Richtung getan. Da SURE jedoch nur bestehende Arbeitsplätze schützt, indem es die Finanzierung von Kurzarbeitergeld und ähnlichen Maßnahmen unterstützt, und keine volkswirtschaftliche Absicherung im Falle rapide steigender Arbeitslosigkeit bietet, kann es die Einführung einer Arbeitslosenrückversicherung nicht ersetzen.

Die Doppelfunktion von Stabilisierung und guter Konditionierung durch europäische Gelder können auch eine gemeinsame europäische Anleihe oder der von der spanischen Regierung vorgeschlagene Recovery Fund bieten: Wenn die Hilfszahlungen aus den nun diskutierten Instrumenten die richtigen Konditionalitäten enthalten, um soziale Mindeststandards in den Mitgliedstaaten zu harmonisieren, können sie sich als nachhaltig und über die Krise hinaus nützlich erweisen. Gute Konditionalitäten könnten hier auch die Brücke zu einem neuen, wichtigen Integrationsschritt schlagen, indem sie die europäische Steuerung der mitgliedstaatlichen Politiken um Anforderungen an die Einnahmenseite (Steuersätze und Bemessungsgrundlagen) ergänzen.

Fiskalpolitischer Neustart

Eine besonders sensible Stellschraube der europäischen Wirtschafts-Regierung ist die Fiskalpolitik. Wie bereits erwähnt, bedarf es nach der Corona-Krise einer substantiellen Abkehr vom Sparkurs der letzten Nachkrisenjahre. Die immer strenger gewordenen Haushaltsauflagen machen es den Mitgliedstaaten unmöglich, adäquat auf die beginnende Rezession zu reagieren: Staatspleiten und Euro-Austritte sind (wieder) realistische Szenarien geworden – und zwar von der „europäischen sozialen Avantgarde“, d.h. den nordischen Mitgliedstaaten, die sich zunehmend von den Binnenmarktfreiheiten bedroht fühlen. Hinzu kommt, dass die oben beschriebenen Instrumente zur Abfederung von Krisen ihre stabilisierende Wirkung erst dann entfalten können, wenn sie die stark unterschiedlichen Handlungsspielräume der Mitgliedstaaten überwinden. Das heißt: Sie müssen aus europäischen Töpfen finanziert werden.

Wie diese Töpfe generiert werden – ob durch gemeinsame Anleihen bzw. Corona-Bonds, Ewigkeitsanleihen oder durch Rückgriff auf bestehende Mechanismen wie den ESM – ist Gegenstand der aktuellen Debatte. Vergessen wird dabei jedoch oft, wie entscheidend der Aufbau europäischer Eigenmittel bzw. einer europäischen Fiskalkapazität in diesem Zusammenhang ist. Die derzeit diskutierten Vorschläge zur Einführung von Finanztransaktionssteuern, Plastiksteuern, einem Carbon Border Adjustment Mechanism, Digitalsteuern, Vermögenssteuern oder auch einer gemeinsamen konsolidierten Bemessungsgrundlage für Körperschaftssteuern würden nicht nur Steuerflucht und -vermeidung auf dem Binnenmarkt eindämmen, sondern auch erhebliche finanzielle Spielräume für die EU eröffnen.

Öffentliche Güter für Europa  

Darüber hinaus braucht die europäische Wirtschaftsordnung eine neue Strategie für öffentliche Investitionen. Die Corona-Krise hat unsere Wirtschaft zwar vorübergehend in den Stillstand versetzt. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Probleme, die wir vor Corona hatten, nach Ende der Pandemie verschwinden werden. Deshalb müssen die Investitionen zur Überwindung der Krise auch den Klimawandel, die Digitalisierung, die zunehmende Ungleichheit und die demografische Entwicklung mitdenken. Europa muss die aktuelle Krise zum Anlass nehmen, umfangreiche und transformative Investitionen zu tätigen. Das geht nur, wenn wir Zukunftsinvestitionen durch eine „goldene Investitionsregel“ („golden rule“) von den Fiskalregeln ausnehmen.

Im Mittelpunkt dieser Überlegungen muss die Bewahrung öffentlicher Güter für alle Europäer*innen stehen bzw. die Schaffung eines Bewusstseins über diese. Dazu gehört neben einer Stärkung der sozialen Infrastruktur, Erziehung, Bildung sowie Wissenschaft und Forschung auch eine europäische Agenda für Gesundheitsschutz und die Bekämpfung sanitärer Krisen. 

Wer gestaltet Europas Zukunft?

Ob sich diese und andere Visionen für die Zukunft der EU und ihrer Wirtschafts- und Sozialordnung  in einer Revision der Europäischen Wirtschaftsregierung, der Fiskalregeln und auch der Europäischen Verträge  wiederfinden werden, wird maßgeblich davon abhängen, wer an den Entscheidungen beteiligt sein wird. Wir können in der Corona-Krise einmal mehr beobachten, dass den Preis für schwere Wirtschaftskrisen in der Regel diejenigen bezahlen, die unter ihren Folgen am stärksten leiden: die Arbeitnehmer*innen, die junge Generation und diejenigen, die gerade Arbeit suchen. Ihre Stimme muss auch auf europäischer Ebene stärker gehört werden, wenn die Europäische Union eine Zukunft haben soll. Die Konferenz zur Zukunft Europas kann ein Weg sein, um durch die Beteiligung der Bevölkerung zu einem solidarischeren, gerechteren und krisenfesteren Europa zu kommen. 


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