Deutscher Gewerkschaftsbund

18.09.2020

Sozialgarantie garantiert unsozial

Die Minister Jens Spahn und Olaf Scholz haben sich auf ein Maßnahmenpaket verständigt, mit dem die Bundesregierung das für 2021 prognostizierte 16,6 Milliarden-Euro-Defizit in der gesetzlichen Krankenversicherung ausgleichen und eine drohende Verdopplung des Zusatzbeitrags auf 2,2 Prozent verhindern will. Der Vorschlag verfehlt sein Ziel und führt die Idee einer Sozialgarantie ad absurdum.

Stethoskop auf Geldscheinen abgelegt

Colourbox.de

Der Koalitionsausschuss von Union und SPD hat bereits am 3. Juni 2020 eine „Sozialgarantie 2021“ beschlossen. Die durch die Corona-Pandemie gestiegenen Ausgaben der Sozialversicherung sollen sich nicht negativ auf die Lohnnebenkosten auswirken. Im Rahmen der Sozialgarantie sollen die Sozialversicherungsbeiträge bei maximal 40 Prozent stabilisiert werden. Darüber hinaus gehende Finanzbedarfe sollen für das Jahr 2021 aus dem Bundeshaushalt gedeckt werden.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und Bundesfinanzminister Olaf Scholz haben sich nach Darstellung des BMG nunmehr am 14.09.2020 auf ein für den DGB nicht nachvollziehbares Maßnahmenpaket verständigt, mit dem die Bundesregierung das für 2021 prognostizierte 16,6 Milliarden-Euro-Defizit in der gesetzlichen Krankenversicherung ausgleichen und eine drohende Verdopplung des Zusatzbeitrags auf 2,2 Prozent verhindern will.

Laut Ergebnispapier des BMG sind folgende Maßnahmen vorgesehen:

  1. Der Bundeszuschuss für die GKV wird im nächsten Jahr lediglich einmalig um fünf Milliarden (auf 19,5 Milliarden Euro) angehoben. 
  2. Mindestens weitere drei Milliarden Euro sollen die Beitragszahler über eine Anhebung des durchschnittlichen Zusatzbeitragssatzes um 0,2 Beitragssatzpunkte auf dann 1,3 Prozent beisteuern. 
  3. Die restlichen acht Milliarden Euro werden aus Beitragsrücklagen bei den Krankenkassen entnommen. Krankenkassen mit einer Finanzreserve oberhalb 0,4 Monatsausgaben sollen rund 66 Prozent ihrer Reserve an den Gesundheitsfonds abführen (auf Basis der zum 30.06.2020 ausgewiesenen Finanzreserven). Daneben soll die Anhebungsverbotsgrenze des kassenindividuellen Zusatzbeitrags von derzeit 1,0 auf 0,8 Monatsausgaben abgesenkt werden. Unantastbar bleiben demnach nur noch Rücklagen in Höhe von 0,4 einer Monatsausgabe. 

Diese Maßnahmen stellen nicht nur eine erneute Belastung der Beitragszahler zu Gunsten des Fiskus, sondern auch einen erneuten Eingriff in die Rücklagen aus Beitragsmitteln bei den Krankenkassen dar. Nach dem durch zurückliegende Gesetzgebungen (VEG) erzwungenen Abbau der Rücklagen aus Beiträgen an die einzelnen gesetzlichen Krankenkassen auf eine reduzierte Mindestreserve von 0,2 Monatsausgaben, untergräbt dies in noch deutlicherem Maße das Selbstverwaltungsprinzip der Krankenkassen. Zudem wird in einer gesundheitspolitischen Krise die finanzielle Stabilität des wichtigsten Sicherungssystems zu ihrer Bewältigung in Frage gestellt. Schlussendlich werden dadurch gut wirtschaftende Krankenkassen bestraft, während die gesetzlichen Kassen insgesamt kaum noch Spielraum haben, um künftige Aufgaben zu bewältigen.

Die Corona-Krise hat in besonderer Weise deutlich gemacht, wie sinnvoll und notwendig ein leistungsfähiges, allen Bürgerinnen und Bürgern zugängliches GKV-System ist. Um dieses aufrecht zu erhalten, sind ausreichende Beitragsreserven der Krankenkassen zwingend erforderlich. Die Absenkung der gesetzlichen Mindestreserve bei den Krankenkassen auf 0,2 Monatsausgaben hat deren Fähigkeiten, auf systemische Schocks und Herausforderungen zu reagieren, bereits deutlich eingeschränkt. Mit der Zweckentfremdung der restlichen Beitragsmittel zur Begleichung der Sozialgarantie 2021 werden die Auswirkungen dieses Fehlers nun potenziert. Aus Sicht des DGB hält das Ergebnispapier des BMG schlicht nicht das, was es leisten soll – eine Sozialgarantie. Es verschiebt zum wiederholten Male vom Steuerzahler zu finanzierende Lasten insbesondere auf die Versicherten als Beitragszahler; diese haben nämlich in der jüngeren Vergangenheit die Rücklagen bei den Kassen mit ihren vormals alleine zu tragenden Zusatzbeiträgen erwirtschaftet.

Der Vorschlag der Minister Spahn und Scholz nimmt auch bewusst in Kauf, dass viele Krankenkassen bei deutlichen Ausgabensteigerungen künftig nahezu ohne Rücklagen auskommen müssen. Damit bringt die Politik etliche Träger der gesetzlichen Krankenversicherung bewusst in Schieflage. Das macht nur, wer eigentlich einen vollständig liberalisierten Kassen-Wettbewerb und eine Neuordnung und Zentralisierung der Krankenkassenlandschaft beabsichtigt. Das ist ein Schlag ins Gesicht der sozialen Selbstverwaltung, die in Krisenzeiten dafür gesorgt hat, dass die gesetzlichen Krankenkassen ihre Aufgaben unbürokratisch und flexibel erbringen.

Bestehende Finanzierungsprobleme werden damit nur teilweise und nicht langfristig angegangen. Hierzu einige Aspekte aus Sicht des DGB:

  1. Die Kosten der Pandemie, aber insbesondere die Auswirkungen der Leistungsausweitungen durch die Gesetzgebungsverfahren der letzten 2 Jahre werden letztendlich auf die Beitragszahler (Arbeitnehmer und Arbeitgeber) abgewälzt. Dies stellt eine erneute Belastung sowie soziale Ungerechtigkeit dar und ist schlicht unseriös. 
  2. In die Finanzautonomie der sozialen Selbstverwaltung der Krankenkassen wird erneut eingegriffen. Das betrifft vor allem die Gestaltung des Haushalts neben den gesetzlich vorgeschriebenen Leistungsausgaben. 
  3. Noch vorhandene Beitragsrücklagen vermitteln ein Zerrbild. Nicht berücksichtigt bleiben Folgekosten der Pandemie in den Jahren nach 2021 sowie Kostensteigerungen durch die weitere laufende Gesetzgebung (z. B. Krankenhauszukunftsgesetz, Kostenübernahme bei Corona-Impfstoffen) sowie fehlende Spielräume für Vertragsverhandlungen der Krankenkassen mit den Leistungserbringern.

Der DGB lehnt ein solches Maßnahmepaket ab. Die Bewältigung der Corona-Pandemie ist und bleibt Aufgabe des Staates. Zu dieser Verantwortung muss die Bundesregierung stehen. Das geht nur durch eine deutliche Erhöhung des Bundeszuschusses mit mehr als den vereinbarten fünf Milliarden Euro, damit die Finanzsituation der gesetzlichen Krankenkassen auch über 2020/2021 hinaus stabil bleibt und die Beitragszahler hier nicht auf den Kosten für die Corona-Pandemie sitzen gelassen werden.


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