Deutscher Gewerkschaftsbund

15.11.2018
Drei Fragen an Stefan Körzell

„Organisierte Ausbeutung auf Europas Straßen“

Ein paar Habseligkeiten in der Plastiktüte, Kochen und Essen am Straßenrand, Schlafen in der Fahrerkabine. Das war bis zu anderthalb Jahre lang Alltag für dutzende philippinische Lkw-Fahrer auf Europas Straßen. Aufgedeckt hatten den Fall europäische Gewerkschaften und das DGB-Projekt "Faire Mobilität". DGB-Vorstand Stefan Körzell über die aktuelle Situation der Fahrer und was jetzt getan werden muss.

Portrait Stefan Körzell

DGB/Simone M. Neumann

Der Fall der philippinischen Lkw-Fahrer ist in den letzten Tagen durch die Presse gegangen. Was kannst Du uns über die aktuelle Situation der Fahrer sagen?

Seit Samstag, den 3.11., wurden die Fahrer fast durchgehend von Kolleginnen und Kollegen der niederländischen Gewerkschaft FNV, den DGB-Projekten Faire Mobilität sowie Faire Integration, und vom DGB Soest vor Ort unterstützt. In Berlin arbeitet die Servicestelle gegen Arbeitsausbeutung, Zwangsarbeit und Menschenhandel von Arbeit und Leben, dem DGB sowie ver.di mit, für die Fahrer einen Weg aus der Situation zu finden. Die Fahrer selbst stehen nun vor dem Dilemma, dass sie unter diesen menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen weiterarbeiten bzw. zeigen müssen, dass sie arbeiten wollen. Wenn sie die Arbeit verweigern, würden sie ihren Job und ihre Aufenthaltsgenehmigung riskieren.

Die Behörden haben am vergangenen Dienstag, den 6.11., den Fahrern freigestellt, wieder zu fahren, weil ihre Papiere anscheinend okay waren. Das Bundesamt für Güterverkehr will zwar Bußgelder gegen das Unternehmen verhängen. Ob die zuständige Staatsanwaltschaft aber einen hinreichenden Anfangsverdacht auf Menschenhandel, Zwangsarbeit oder Ausbeutung der Arbeitskraft sieht, wissen wir bis heute nicht. Öffentlich sagte die Staatsanwaltschaft im WDR: Die Fahrer hätten ihre Pässe und könnten jederzeit kündigen. Ihr Lohn mache es ihnen möglich, zurück ins Heimatland zu fliegen. Damit macht es sich die Staatsanwaltschaft sehr einfach.

Wir sehen das natürlich anders. Die Staatsanwaltschaft muss allen Hinweisen so intensiv nachgehen wie ihre dänischen und niederländischen Kollegen. Dort sind 40 Fahrer der gleichen Firma wegen Verdacht auf Menschenhandel in Sicherheit gebracht worden. Das ist immerhin ein Signal, dass diese Menschen verachtenden Geschäftsmodelle nicht hingenommen werden.

Wie wird die Ausbeutung organisiert?

In diesem Fall wirbt ein dänisches Unternehmen Menschen auf den Philippinen an und verspricht ihnen einen Job als Lkw-Fahrer in Polen. Die polnische Filiale ist offensichtlich eine Briefkastenfirma. Die Fahrer sagen, dass sie für die nötigen Papiere 2000 bis 5000 Euro bezahlen mussten, damit sie EU-weit als Lkw-Fahrer eingesetzt werden können. Sie haben nie in Polen gewohnt, sondern wurden mit einem polnischen Arbeitsvertrag sofort in ihrem Lkw losgeschickt. Die Männer sind hauptsächlich Touren zwischen Deutschland und Österreich bzw. Italien gefahren.

Was muss getan werden?

Erstens muss verhindert werden, dass die Fahrer jetzt weiterfahren, ohne dass sich etwas ändert. Darauf läuft es hinaus, wenn das BAG die Weiterfahrt erlaubt, ohne dass sichergestellt ist, dass es zukünftig eine Unterkunft gibt, wo sie die vorgeschriebenen Ruhezeiten verbringen können. Die Verkehrssicherheit ist in Gefahr, wenn die Fahrer keinen vernünftigen Ort zur Erholung haben. Hinzu kommt, dass sich die Männer seit Anbeginn der Ermittlungen in einer Stresssituation befinden. Kein Mensch sollte in dieser Situation 40 Tonnen über die Autobahn lenken.

Zweitens haben die Fahrer für jede Stunde, in der sie in Deutschland gearbeitet haben, Anspruch auf den deutschen Mindestlohn. Erste Berechnungen für einen der Fahrer ergaben einen Lohnanspruch von 2.300 Euro. Bisher hat er nur 500 Euro erhalten.

Drittens muss der organisierten Ausbeutung auf Europas Straßen endlich der Garaus gemacht werden. Vor Ort muss die Staatsanwaltschaft aktiv werden. Denn die Fahrer befinden sich offensichtlich in einer Zwangslage, angefangen bei den enormen Zahlungen, um den Job überhaupt zu kriegen, über die menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen, ohne Wohnung, komplett isoliert von der Außenwelt am Arbeits- und Lebensort Lkw. Außerdem sind die Mindestlohnunterschreitungen und der Zwang, die Lenk- und Ruhezeiten nachweislich zu missachten, offensichtliche Verstöße gegen europäisches Recht.

In Brüssel müssen Verkehrsminister Scheuer und seine Kollegen im Europäischen Rat und das EU-Parlament endlich die Arbeits- und Lebensbedingungen in den Mittelpunkt ihrer Verhandlungen über neue Regeln für Europas Straßen stellen. Leider sind die angekündigten Verbesserungen nicht in Sicht. Im Gegenteil: Nach wie vor scheint die Richtschnur zu sein, die illegale Praxis dieser Lohndumping-Unternehmen zu legalisieren.

An diesem aktuellen Fall wird noch mal deutlich, wie die Realität auf Europas Straßen aussieht. Dass sich Fahrer gegen diese Ausbeutung – trotz berechtigter existentieller Ängste – zur Wehr setzen, zeigt, wie katastrophal die Situation ist.


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